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Nachholende Urbanisierung der 1920er Jahre

Nach dem verlorenen Weltkrieg brach das Kaiserreich zusammen und die demokratische Weimarer Republik wurde gegründet. Während die alten Eliten und die neuen Antidemokraten die Republik bekämpften, richteten sich viele Hoffnungen der Arbeiterschaft auf den neuen Staat. Die sehr junge Arbeiterschaft, die alltäglich unter autoritären und gefährlichen Arbeitsverhältnissen litt, erwartete nun konkrete handgreifliche Verbesserungen. Das Schlagwort von der Sozialisierung war in aller Munde, Arbeitszeitverkürzungen und in der fortschreitenden, durch die Kriegsfinanzierung verursachten Inflation wurden Lohnerhöhungen gefordert. Die ersten demokratischen Wahlen zur Bueraner Stadtverordnetenversammlung mit allgemeinem und gleichem Stimmrecht fanden am 2. März 1919 statt und zeigten nun, wie sehr sich die Obrigkeit in der Einschätzung der politischen Stimmung in Buer bei der Verleihung der Stadtrechte getäuscht hatte. Die im Krieg gespaltene Sozialdemokratie holte fast die Hälfte der Stimmen.

Und nach der Entstehung der Kommunistischen Partei war Buer zu Weimarer Zeiten, natürlich nicht in der Ortsmitte, sondern in den Arbeitersiedlungen, eine Hochburg der Kommunisten, die fast immer stärker als das katholische Zentrum und den Sozialdemokraten um das zwei- bis dreifache überlegen waren. (Achtung auch hier haben wir mental maps zur Wahlgeographie) Der industriegeschichtlich jüngere Norden unserer heutigen Stadt wählte dabei auch stärker kommunistisch als der Süden, was darauf hinweist, das solche radikalen Orientierungen auch als ein Phänomen mangelnder Integrationskraft eines gewissermaßen unfertigen Gemeinwesens verstanden werden kann. Bundesarchiv Bild 102-00016, Gelsenkirchen-Buer, Französischer Panzer Die Zeit der Weimarer Republik war von scharfen, oft gewalttätigen politischen Konflikten geprägt, das Industriezeitalter hatte in der lokalen politischen Kultur zu politisch-kulturellen Spaltungen geführt, wobei sich soziale und milieuhafte Fragmentierungen mit ethnischen Differenzierungen verschränkten.

Am Ende der Republik stand der rasche Aufstieg der NSDAP zur stärksten Partei, auch wenn deren Wahlergebnisse auf dem Gebiet unserer heutigen Stadt unter dem Reichsdurchschnitt blieben. Nur der politische Katholizismus mit der Zentrumspartei an der Spitze und auch die Ruhr-Sozialdemokratie, die starke Verluste an die Kommunisten hinnehmen musste, erwiesen sich als relativ resistent gegenüber der nationalsozialistischen Herausforderung. Die Stadt Buer bemühte sich während der Weimarer Republik unter den Schwierigkeiten von Massennotständen, Inflation und belgisch-französischer Ruhrbesetzung aber ernsthaft um die Gestaltung der Stadt.

So waren die 1920er Jahre für die Infrastruktur trotz aller Krisen eine Phase nachholender Urbanisierung. Es entstanden neue öffentliche Gebäude und Einrichtungen wie Schulen, Sportanlagen, Sozialeinrichtungen. In Buer bemühte man sich um eine anspruchsvolle Gestaltung eines administrativen Zentrums mit Rathaus, Finanzamt, Polizeigebäude, des sogenannten Forums. Ebenfalls wurde angesichts der Ersten Strukturkrise des Steinkohlenbergbaus durch die einsetzende Mechanisierung mit der „produktiven Erwerbslosenfürsorge“ als einer frühen Form der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ein Grüngürtel um den Buerschen Ortskern ausgebaut. Bei allem berechtigten Eigenlob als „Industriegroßstadt im Grünen“ darf aber auch nicht vergessen werden, dass die Stadt Buer bis zum Ende der 1920er Jahre als Großstadt, seit 1922 mit über 100.000 Einwohnern, keine städtische Badeanstalt, keinen ausreichenden Saal, kein Berufsschulgebäude, keine ausreichenden Unterkunftsmöglichkeiten für Schulen, kein Theater und immer noch keine vollständige Kanalisation hatte. Das verwinkelte Stadtinnere erinnerte an die alte Landgemeinde, die Buer noch vor 50 Jahren gewesen war.

Vor dem Hintergrund der mangelnden Leistungsfähigkeit der kommunalen Gebilde im Ruhrgebiet setzt sich auch nach dem Ersten Weltkrieg die Diskussion um Stadt- und Regionalplanung und die Fragen zur kommunalen Gliederung der Region fort. Ein handgreifliches Ergebnis war 1920 die Bildung des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk mit (begrenzten) Planungskompetenzen für die Gesamtregion. Auf der Ebene der Städte und Kreise scheint die Schaffung der Stadt Buer im zu Ende gehenden Kaiserreich für die Überlegungen vieler preußischer Kommunalbeamter zur Stadt- und Regionalplanung im Ruhrgebiet noch nicht die ideale Lösung gewesen zu sein. Schon 1921 brachte der Gelsenkirchener Oberbürgermeister gegenüber seinem Bueraner Kollegen den Gedanken einer Vereinigung beider Städte ins Gespräch und verwies auf die „Gemeinschaftlichkeit“ zwischen beiden Städten – die Zeche Graf Bismarck, die verbindende Straßenbahn, die Notwendigkeit der Erhaltung von Waldflächen und die gemeinsamen Chancen, große öffentliche Einrichtungen zu gewinnen und Verkehrs- und Siedlungswesen gemeinsam zu planen. In Buer ging man zunächst auf Distanz. Spitzengespräche über einen Zweckverband fanden dann aber nach dem Ende der belgisch-französischen Ruhrbesetzung erstmals 1925 statt.

Nach dem längeren Diskussionsprozess, der hier nun nicht mehr nachgezeichnet werden soll, wurden 1928 im Rahmen der kommunalen Neuordnung des Ruhrgebiets die Großstädte Gelsenkirchen und Buer mit der Landgemeinde Horst zur neuen Stadt „Gelsenkirchen-Buer“ zusammengelegt. 1930 gab sich die Stadt den Namen „Gelsenkirchen“. Diese damaligen Entscheidungen sind nie mehr wirklich grundsätzlich in Frage gestellt worden. Das verbreitete Ruhrgebietsbewusstsein, die Verbundenheit mit der näheren Heimat und die mental maps zu Buer zeigen, dass in Gelsenkirchen und auch in Buer selbst wie im ganzen Ruhrgebiet eine neue polyzentrische Urbanität entstanden ist, in der sich urbane, suburbane sowie auch weniger städtische Lebensweisen in zukunftsweisender Form miteinander verbinden, wobei der ganze Ballungsraum wohl mit allen „Zutaten“ „wahrer Urbanität“ ausgestattet ist. Im Ruhrgebiet konnte sich letztlich nur eine besondere polyzentrische Urbanität herausbilden, die mit „normalen“ Ballungsräumen oder Großstädten nur schwer zu vergleichen ist. Dabei könnte die polyzentrische Struktur des Ruhrgebiets eine Stärke in hoch differenzierten modernen Gesellschaften sein. Als raumfunktional arbeitsteilige Stadtregion mit jeweils unterschiedlichen räumlichen Identitäten und Stärken könnte gerade das Ruhrgebiet eine neue Form von polyzentrischer Stadt darstellen. In Gelsenkirchen mit seinen beiden Zentren auf beiden Seiten der Emscher ist der Zusammenschluss bislang noch nie gefeiert worden. Vielleicht sollte man aber genau das demnächst mal tun, vielleicht, wenn das Neue Emschertal mit der renaturierten bzw. naturnah neu gestalteten Emscher die beiden Zentren verbindet. Denn die Städte im Ruhrgebiet sind ja jung im Vergleich zu vielen anderen Städten und haben in 100 Jahren oder auch etwas mehr eine Urbanität erreicht, wofür alte Städte hunderte von Jahren gebraucht haben. Und im Ruhrgebiet hatte man in den letzten Jahren noch den Strukturwandel zu bewältigen und wir arbeiten immer noch dran. Also eigentlich keine schlechte Bilanz!


 

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Von Stefan Goch

Stefan Goch ist Jg. 1958, Sozialwissenschaftler, Dr. soc., Leiter des Instituts für Stadtgeschichte in Gelsenkirchen, apl. Prof. an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum

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