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Wie so oft im Leben, so auch im politischen Leben entpuppen sich manche Enttäuschungen – natürlich nicht alle – im Nachhinein als sinnvolle Fügungen. Diese Fügung trug bei mir den Namen Bulmke.

SPD-Mitglieder

Als ich der SPD 1968 beitrat, hatte die SPD in Gelsenkirchen ca. 8.000 Mitglieder. 1974/75 waren es sogar deutlich über 12.000. Heute in 2008 sind es noch knappe 4.500. An diesen Zahlen erkennt man den massiven Mitgliederverlust innerhalb von 30 Jahren, den die SPD in Gelsenkirchen zu beklagen hat. (Die Zahlen der Gesamtpartei sind nicht besser.) Der Mitgliederschwund ist keine spezifische Entwicklung bei der SPD, sondern betrifft alle Parteien, aber auch Großorganisationen wie Gewerkschaften, Kirchen und sonstige Verbände und Vereine. Die Ursachen sind vielfältig, liegen aber m. E. wesentlich begründet in der zunehmenden Individualisierung der Lebensstile und dem Trend zum Rückzug ins Private. Damals gab es im ganzen großen SPD-Unterbezirk Gelsenkirchen lediglich vier Juso-Arbeitsgemeinschaften (Juso-AGs), die obendrein für mich als autolosen Menschen alle fern ab vom Schuss lagen, z.B. in Buer. Jetzt hörte ich, dass eine fünfte gegründet werden sollte, und zwar im SPD-Ortsverein Bulmke, und Bulmke war für mich, den Unmotorisierten, sogar zu Fuß noch gut erreichbar! (Für alle Ortsunkundigen: Bulmke – genauer Bulmke-Hüllen – ist ein Ortsteil von Gelsenkirchen, der an den Ortsteil Altstadt grenzt.) So begann meine Bulmker Ära, die sich als ursprünglich unbeabsichtigte, aber dann lang andauernde Liebesaffäre entpuppte. Nebenbei findet damit auch die oft gestellte Frage, warum ich dem SPD-Ortsverein Bulmke angehörte, obwohl ich dort nie gewohnt habe, ihre Antwort. Heute bin ich zum Wohnortsprinzip der SPD zurückgekehrt. Ich wohne in der Altstadt, also bin ich auch Mitglied der SPD Altstadt. Zudem hat sich dieser Ortsverein sozusagen vom Saulus zum Paulus gewandelt, sodass ich mich auch hier heimisch fühle. Die alte Liebe zu Bulmke ist aber trotz der Trennung immer geblieben.

Hier ist der Ort, um etwas mehr über Bulmke zu sagen.

Da existierte z. B. die grandiose Juso-AG Bulmke, die nicht nur am Anfang einer gewaltigen Expansion der Juso-Organisation stand – es existierte ab 1971/72 kaum ein Ortsverein mehr in Gelsenkirchen, in dem es keine florierende Juso-AG gab -, sondern auch viele interessante Köpfe hervorgebracht hat. Zu erwähnen ist der damalige Sportstudent Gregor Kalender aus dem Tossehof, ein politisches Talent. Leider stieg er aus persönlichen Gründen relativ früh wieder aus der Politik aus. Berühmt war seine reichhaltige Antrags-Produktion, die als „Kalender-Blätter“ in die Geschichte einging. Es gibt noch eine andere schöne Geschichte von Gregor, die in bemerkenswerter Weise fast bruchlos äußeres und inneres Wesen dieses kernigen, muskelbepackten Naturburschen auf einen Nenner bringt. Nach der denkwürdigen Juso-Vollversammlung bei Holz in Erle (siehe die nächsten Kapitel), auf der der stellvertretende Bundesvorsitzende der Jungsozialisten Loke Mernizka sein mächtiges Wort gemacht hatte, verabredeten wir uns zu einem Umtrunk in der Wohnung eines Bulmker Genossen, ich meine, es war Rolf Schröder. Alle Eingeladenen waren bereits eingetroffen – aber Gregor und Loke ließen auf sich warten. Wir machten uns schon Sorgen, als endlich ein völlig aufgelöster, schweißüberströmter Loke Mernizka und ein aufgekratzter Gregor Kalender erschienen. Heute darf man die Geschichte, glaube ich, erzählen. Denn die zahlreichen Vergehen und Gesetzesübertretungen, die sie beinhaltet, sind hoffentlich verjährt.

Kurz und gut:

Gregor hatte Loke, der, das müssen Sie wissen, über eine ausladende Leibesfülle verfügte (und noch verfügt), in sein Auto verfrachtet, und dann, wie wir sagen, richtig Stoff gegeben. Plötzlich trat die Polizei auf den Plan. Anstatt nun, wie es sich gehört, brav anzuhalten, schaltete Gregor das Licht aus, trat aufs Gaspedal und raste als intimer Kenner der Szene über alle möglichen Schleichwege, natürlich beharrlich verfolgt von der Polizei. Schließlich landete man irgendwo in einem abgeschiedenen Busch. „Raus!“ schrie Gregor. Beide verließen fluchtartig den Wagen und nahmen bäuchlings Deckung hinter diversen Gehölzen. Eine Zeit lang geisterte noch das bleiche Licht der Polizeilampen durch die Nacht, bis die Ordnungshüter ihre Suche aufgaben. Als die Luft rein war, hieß es, ab nach Bulmke zum erlösenden, kühlen Bier! Mein üppiger Freund Loke, lange Jahre auch Landtagsabgeordneter, erschauert heute noch, wenn ich ihn an diese Tortur erinnere. Was die AG betrifft, so wären viele zu nennen, z. B. Dieter Raschdorf, Vera Greiffer, Bernd Skrotzki, Alois Kleine-Geldermann, Helgard Geldermann, Rainer Lante, Rolf Schröder, Peter Weckmann und andere – die meisten von ihnen sind leider schon lange nicht mehr aktiv im „Club“. Zu nennen ist besonders der etwas später hinzu gestoßene Klaus Haertel, der prosaische Diplom-Chemiker mit der unverwechselbaren Lache und der schon pathologisch zu nennenden Liebe zu Schalke 04. Von ihm werden wir im zweiten Band noch öfter hören, und zwar nicht nur, weil er der amtierende Vorsitzende der SPD-Ratsfraktion ist. Ebenso Margret „Maggi“ Schneegans, eine intelligente und attraktive Frau, die jahrelang umsichtig den Ortsverein führte und eine der wichtigen Stadtverordneten in der SPD-Ratsfraktion ist.

Drei Namen aus späteren Generationen:

Michael Wurmes (siehe Band Zwei); die zurückhaltende Karin Lizi- um, eine hochgebildete Frau und nun schon lange Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin von MdB Joachim Poß; dann Manfred Leichtweis, aus dem Arbeitermillieu stammend, lebendes Beispiel dafür, dass ein Mensch durch die Politik der Sozialdemokratie die Chance bekommt, seine Fähigkeiten und Begabungen entfalten zu können, heute Stadtverordneter. Überhaupt war der gesamte Ortsverein (die Juso-AG war ja nur ein Teil von ihm) etwas Besonderes. Der erste OV-Vorsitzende, den ich kennen lernte, war Heinrich Walter, ein Mann, der von der katholischen Soziallehre her zur SPD gestoßen war. Seine zutiefst menschliche Art und, obwohl schon betagt, sein einfühlsames Verständnis für die neuen Zeiten beeindrucken mich noch heute. Als Heinrich merkte, dass junge Leute nach vorne strebten, stellte er ohne Wenn und Aber seine Funktion zur Verfügung. Die gängige Bockigkeit und die Vorstellung einer angeblichen Unersetzbarkeit, die bei so vielen älteren Damen- und Herrschaften nicht nur in der Politik üblich sind, waren ihm fremd. Er war ein Vorbild und ist es noch. Viele andere liebenswerte Menschen sind mir im Gedächtnis haften geblieben. Stellvertretend seien Hilde und Günter Eifert, die Unermüdlichen, genannt, dann der Journalist Dieter Neuberg und seine Frau Hanna, die ab 1980 meine erste Mitarbeiterin in meinem neuen MdL-Büro werden sollte, und der damalige AWO-Chef Fritz Pfeiffer. Ja, selbst Menschen wie das sozialdemokratische Urgestein Friedel Pfeiffer, der zeitweilige Vorsitzende Heinz Hamer und meine Stadtverordnetenkollegin Alma Muchowski mochte ich irgendwie, obwohl sie wahrlich nicht zu meinen Freunden zählten. Das galt auch für Ernst-Otto Glasmeier, heute eine lebende Architektenlegende. Ernst-Otto, dessen zur Schau gestellte Arroganz nicht nur mich provozierte, war Bulmker Stadtverordneter, und selbstverständlich trat er bei der Kandidatenkür für die Kommunalwahl 75 wieder an. Ich war sein Gegenkandidat und unterlag im Ortsverein. Bei der folgenden Delegiertenkonferenz, die das letzte Wort hatte, sah es dann umgekehrt aus – für mich eine Gelegenheit, ihm endlich einmal ebenso arrogant zu begegnen, wie es bei ihm Usus war. Ich glaube, ich sagte ihm nach der Wahl sinngemäß: „Tja Ernst-Otto, bei deiner Intelligenz kann ich es mir gar nicht erklären, dass du auf das falsche Pferd gesetzt hast.“ (Ich meinte die Löbbert-Gruppe, der er angehörte.) Ernst-Otto musste passen, und damit waren wir quitt.

Um bei der Wahrheit zu bleiben, war natürlich auch der OV Bulmke keine Insel der Seeligen. Mir begegneten auch Menschen, mit denen ich nicht klar kam oder die ich sogar ablehnte – gelackte Bürokraten, prollige Ex-Kommunisten, politische Dummköpfe, Absahner und Opportunisten. Aber jetzt, wo ich dabei bin, fallen mir spontan weitere liebe Menschen ein, die ich nie kennen gelernt hätte, wäre ich nicht zur SPD gegangen, und die heute zusammen mit einigen „Altvorderen“ den Ortsverein tragen. Der jetzige Vorsitzender des Ortsvereins Wolfgang Hovenga, Berthold Plückthun und seine Frau, Reinhard Dudzik mit seiner besseren Hälfte, Dietmar Dieckmann und, und, und … Entschuldigung, ich kann wirklich nicht alle nennen, die es verdient hätten. Ich bitte um Nachsicht. Alles in allem war die Juso-AG und der Ortsverein die Keimzelle vieler politischer Talente, und da es eine Zeit gab, in der mehrere Spitzenpositionen der GE-Partei gleichzeitig von Bulmkern besetzt waren (und noch sind), kursierte in der Partei das neidische Wort vom „Unterbezirk Bulmke“.

 

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Von Hans Frey

Hans Frey (geb. 24.12.1949 in Gelsenkirchen, verw., drei Kinder) studierte Germanistik und Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und arbeitete dann als Studienrat an einem Gelsenkirchener Gymnasium. 1980 wurde er in den Landtag von Nordrhein-Westfalen gewählt, dem er bis 2005 angehörte. Seit dieser Zeit lebt er (formal) im Ruhestand. Neben der Politik war und ist Hans Frey publizistisch und künstlerisch engagiert. U. a. kreierte er 1996 als Drehbuchautor und Regisseur die Stadtrevue „Ja, das alles und mehr…“, gab sieben Jahre lang das Stadtmagazin DIE NEUE heraus und gehörte 2004 zu den Mitinitiatoren der Kunstausstellung RUHRTOPIA in Oberhausen. Im September 2007 war er Mitbegründer von gelsenART e. V., Verein zur Förderung von Kunst und Kultur im Ruhrgebiet. Unter seinen Buchveröffentlichungen finden sich u. a. - der fantastische Roman „Die Straße der Orakel“, der in einer Antike spielt, die man so aus den Geschichtsbüchern nicht kennt (2000), - das Sachbuch „Welten voller Wunder und Schrecken – Vom Werden, Wesen und Wirken der Science Fiction“ (2003), ein umfangreiches Werk, das alle Facetten der Science Fiction beleuchtet, - und sein aktuell letztes Buch (September 2009), der erste Band seiner politischen Autobiografie „Ja, das alles und mehr! – Geschichte und Geschichten aus 35 Jahren Politik“ mit dem Titel: „Wilder Honig“.

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