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Bundeskongresse waren die Höhepunkte des Juso-Lebens. Mein erster war der von 1970 in Bremen mit dem unvergesslichen Auftritt von Herbert Wehner.

Obwohl ihn viele der angereisten Westentaschen-Revoluzzer als „Revisionisten“ einstuften (ich aber nicht!), wurde er frenetisch gefeiert – oh, rätselhafte Juso-Seele.

Unvergesslich auch die Passage, als während Herberts Rede jemand aus dem Auditorium heraus irgendetwas mit „Kommunist“ rief. Daraufhin Wehner in seiner blaffenden Art: „Das braucht man mir hier doch nicht im Stil der ‚Schweinische Pest’ vorzuwerfen!“ Er meinte natürlich die rabenschwarze Zeitung „Rheinische Post“. Der Saal tobte vor Begeisterung. In bleibender Erinnerung ist mir auch der sog. „Strategiekongress“ von Hannover 1971.

Hier sollte endgültig der theoretische Kurs der Jusos geklärt werden. Daraus wurde zwar nichts, aber dafür waren die Begleiterscheinungen umso witziger. Der Bundesvorstand hatte nämlich fast das ganze Maritim-Hotel angemietet. Das empfand ich zuerst als sehr anstößig („Was sollen Jusos in dieser Kapitalistenbude?“), aber als mir erklärt wurde, diese Operation sei finanziell und organisatorisch viel günstiger als eine Unterbringung der Delegierten in vielen kleinen Hotels, war ich besänftigt.

Jetzt muss man sich folgendes Bild vorstellen: Plötzlich fielen in Scharen Jusos, natürlich „standesgemäß“ in Jeans, Rollis und Parkas, in das vornehme Hotel ein – darunter waren auch Jochen Poß und ich. Die adrett gekleideten Damen und Herren an der Rezeption bekamen immer größere Augen, die Gesichter wurden bleich, und einigen sah man an, dass sie an ihrem geordneten Hotelweltbild schier verzweifelten.

Damit nicht genug! Da viele Jusos gewohnt waren, zu diesen Events Freunde und Freundinnen mitzubringen (die nicht Delegierte waren), quoll das Hotel nicht nur vor „roten Garden“ über, sondern auch die übliche Doppelbelegung der Zimmer wurde ins Reich der Legenden verwiesen. Das war natürlich nicht statthaft, aber keinen kümmerte es (die Hotelleitung hatte offensichtlich in weiser Voraussicht von vornherein kapituliert). Am späten Abend wäre es dann beinahe zum Eklat gekommen. Denn ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt fand in einem der Säle ein Ball der jungen Unternehmer statt! Als wir davon Wind bekamen, zogen wir unter Leitung des stimmgewaltigen Loke Mernizka (wieder Loke!), Arbeiterlieder singend, provozierend in den Saal ein.

Glücklicherweise war der Ball schon fast zu Ende und für die wenigen Hansels im Smoking, die noch da waren, lohnte es sich nicht, eine Rauferei anzufangen. So wurde dann ersatzweise der Kampf mit dem Klassenfeind an die Hotelbar verlegt und endete beduselt, aber friedlich. Bei den Juso-Kongressen waren es nicht nur die inhaltlichen Debatten, die Redeschlachten, die Beschlüsse, die Auftritte prominenter Persönlichkeiten und die Personalentscheidungen, die hoch spannend waren, sondern auch und in gewisser Weise gleichrangig das ganze „Drumherum“. Die abenteuerlichen An- und Abreisen in z. T. schrottreifen Autos, die Kongresssäle mit den Kohorten von Journalisten, Mikrophonen und Kameras, die Tatsache, dass man alle Nase lang bekannte Gesichter aus den tiefsten Winkeln der Republik begrüßen konnte, die eilig einberufenen Delegationstreffen, auf denen furchtbar Wichtiges abzusprechen war, die diversen Ausstellungen und Info-Tische regionaler Juso-Gruppen mit ihren neuen Ideen und Anregungen, die durchzechten Nächte, die neu geschlossenen Kontakte und Freundschaften, die kleinen Kurzausflüge rund um die Halle in einer fremden Stadt, vielleicht hier und da ein amouröses Intermezzo – alles das und noch viel mehr vermittelten den „Duft der großen weiten Welt“ und eine fast berauschende Atemlosigkeit, in der man etwas erlebte, was ganz und gar dem Alltagstrott entzogen war.

Die heute oft verzweifelten Beschwörungen des Satzes „Politik muss auch Spaß machen“ waren in diesen Situationen fehl am Platze. Es wurde nicht nur gestritten, sondern v. a. auch viel gelacht, und Politik machte unendlich viel Spaß! Punkt! Selbstverständlich hatte das eine Menge mit der neuen Jugendkultur zu tun, die sich mit den 68ern Bahn gebrochen hatte und die anschließend selbst Generationengrenzen überschritt.

Die 68er waren nun einmal eine Aufbruchs- und Erneuerungsbewegung, die Hirn und Herz ansprach, und die Jungsozialisten waren ein wichtiger Teil von ihr. Dass sich auf Dauer eine derartige Atmosphäre nicht konservieren lässt, entspricht der Lebenserfahrung und bestätigte sich in der historischen Entwicklung. Nichtsdestotrotz war in diesen Jahren die politische Arbeit immer untrennbar verbunden mit einem unbeschwerten, „himmelsstürmenden“ Lebensgefühl. So erging es jedenfalls mir und vielen meiner Mitstreiter/innen, und ich hätte es um kein Geld in der Welt missen wollen. Es versteht sich, dass wir auch in der „normalen“ Politik vor Ort von der geschilderten Stimmung getragen wurden. Wir hatten das Gefühl, Bäume ausreißen zu können – und wir konnten tatsächlich Bäume ausreißen, zumindest einige.

Dass andere und ich dabei viele utopistische Flausen mit sich herumtrugen und erheblich unterschätzten, dass die hehren Ansprüche relativ schnell vor der Wirklichkeit verpuffen würden, sei uns ebenso nachgesehen wie die Tatsache, dass, wie ich später erkannte, bestimmte Ansichten und Einschätzung politisch schlicht falsch waren. Immerhin sei zu unserer Ehrenrettung gesagt: Diese „Leichtigkeit des Seins“ war nicht unwesentlich dafür verantwortlich, dass wir als Jusos eine beträchtliche politische Dynamik in Gelsenkirchen entwickeln konnten. Dabei ging es nicht nur um die Inhalte der Politik, sondern auch um eine andere Art, sie zu präsentieren.

Wir fingen an, mit neuen Veranstaltungsformen zu experimentieren. Wir wollten weg von Veranstaltungsschemata, die letztlich noch in der Weimarer Republik mit ihren Massenaufmärschen und Volkstanzgruppen wurzelten. Das erste Ergebnis war der „Junibumms“! Ein provozierender Titel, den Kurt Woiwod erfunden hatte, und – heute würde man sagen – ein Multimedia-Mix aus Musik, Tanz, Politik, Film und Interview, das war das Rezept, und es war mehr als erfolgreich. Es folgten der „Polit-Basar“ als erste Open Air-Session vor dem Musiktheater und andere „Infotainment“-Ereignisse.

Hier wurden auch Erfahrungen gesammelt, die dann ab 72 in die offenen Straßenwahlkämpfe einflossen. „Polit-Feten“ aller Art gehörten in unserer Juso-Zeit zum Standard der öffentlichen Darstellung.

Herausheben möchte ich noch eine Veranstaltung im September 1976, weil es so etwas in Gelsenkirchen vorher noch nie gegeben hatte. Wir entdeckten den Gelsenkirchener Stadthafen, mieteten ein Schiff der „weißen Flotte“ und kreierten ein ganztägiges Hafenfest. Der Zuspruch war enorm. Zigtausende von Bürgerinnen und Bürgern pilgerten an einem Sonntag zum Hafen, machten eine Schiffsfahrt auf dem Rhein-Herne-Kanal und erfreuten sich am bunten Getümmel in ungewöhnlichem Ambiente. Wir wiederum freuten uns ob des Erfolgs. Jahre später gab es noch einmal eine Neuauflage, diesmal von der gesamten SPD organisiert.

Als im Kommunalwahlkampf 2004 Wittke und die CDU „ihr“ Hafenfest als etwas ganz Neues anpriesen, konnte ich nur müde lächeln. Tatsächlich hatte es der nassforsche Wittke schlicht von uns Jusos abgekupfert – ja richtig, genau jener Wittke, der zu meinem Entsetzen Oberbürgermeister von Gelsenkirchen werden sollte, es dann aber – übrigens auch mit meiner Mithilfe – nicht lange blieb und mittlerweile eine atemberaubende politische Talfahrt erlebt hat.

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Von Hans Frey

Hans Frey (geb. 24.12.1949 in Gelsenkirchen, verw., drei Kinder) studierte Germanistik und Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und arbeitete dann als Studienrat an einem Gelsenkirchener Gymnasium. 1980 wurde er in den Landtag von Nordrhein-Westfalen gewählt, dem er bis 2005 angehörte. Seit dieser Zeit lebt er (formal) im Ruhestand. Neben der Politik war und ist Hans Frey publizistisch und künstlerisch engagiert. U. a. kreierte er 1996 als Drehbuchautor und Regisseur die Stadtrevue „Ja, das alles und mehr…“, gab sieben Jahre lang das Stadtmagazin DIE NEUE heraus und gehörte 2004 zu den Mitinitiatoren der Kunstausstellung RUHRTOPIA in Oberhausen. Im September 2007 war er Mitbegründer von gelsenART e. V., Verein zur Förderung von Kunst und Kultur im Ruhrgebiet. Unter seinen Buchveröffentlichungen finden sich u. a. - der fantastische Roman „Die Straße der Orakel“, der in einer Antike spielt, die man so aus den Geschichtsbüchern nicht kennt (2000), - das Sachbuch „Welten voller Wunder und Schrecken – Vom Werden, Wesen und Wirken der Science Fiction“ (2003), ein umfangreiches Werk, das alle Facetten der Science Fiction beleuchtet, - und sein aktuell letztes Buch (September 2009), der erste Band seiner politischen Autobiografie „Ja, das alles und mehr! – Geschichte und Geschichten aus 35 Jahren Politik“ mit dem Titel: „Wilder Honig“.

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