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Richten wir jetzt den Scheinwerferkegel wieder auf Gelsenkirchen. Die Wahl des Juso-Kollektivvorstandes (1970) war das erste Signal, das die nun folgenden stürmischen Jahre für die GE-SPD ankündigen sollte.

Der Kollektivvorstand entwickelte sich sofort zum Zankapfel zwischen uns und den etablierten Mächten der Partei, denn während wir in ihm eine besondere demokratische Errungenschaft sahen, wurde uns von den anderen unterstellt, man wolle unter Vertuschung von Verantwortlichkeiten die Partei unterwandern. Während wir mehr demokratische Kontrolle einforderten (u. a. mit dem zugegeben missverständlichen Begriff des „imperativen Mandats“), vermuteten die Altvorderen darin den Versuch, die persönliche politische Verantwortung und das Gewissen v. a. bei den Mandatsträgern abschaffen zu wollen.

So sahen sich Otto Gorny, bis November 1971 Vorsitzender der SPD-Ratsfraktion (Nachfolger war Willibald Heinrichs bis 1975), und Oberbürgermeister Josef Löbbert veranlasst, gegen den frischgebackenen Juso-Vorstand in der Presse Front zu machen.

Das Verhalten der Etablierten, sofort auf öffentlichen Konfrontationskurs zu gehen, ohne mit uns überhaupt ein einziges Wort gewechselt zu haben, war, um es diplomatisch auszudrücken, außerordentlich unklug. Denn erstens begaben sie sich von Anfang an der Chance, die Sache zu deeskalieren, und zweitens steigerten sie (ungewollt, versteht sich) unser politisches Gewicht in der sich anbahnenden Auseinandersetzung. Jedenfalls wurden wir, obwohl wir noch gar nichts vorzuweisen hatten, zweifellos wichtig, in der Anfangszeit wohl auch zu wichtig genommen. Wir aber fanden das gut. Die Jungsozialisten waren nicht die Einzigen, die mit den Zuständen in der Gelsenkirchener SPD unzufrieden waren. Wir trafen auf eine Parteiströmung, die nicht so offen und auch nicht so radikal wie wir das Bestehende kritisierte, die aber durchaus nachhaltig und bereits stärker verankert Gegenpositionen in die Debatte einbrachte.

Die Strömung gegen die Alteingesessenen mit Josef Löbbert, Heinz Urban, Hans Gertzen, Werner Kuhlmann und Werner Nuth an der Spitze sammelte sich hauptsächlich um Heinz Meya und Egbert Reinhard. Beide waren nicht nur für die Jusos enorm wichtige Personen. Denn: Heinz Meya, damals Schul- und Kulturdezernent, hatte in diesem Amt eine Art Brückenkopf der innerparteilichen Opposition im Beigeordnetengremium inne, saß also im Zentrum der kommunalen Verwaltungsmacht, während es Egbert Reinhard, von Hause aus Jurist und städtischer Rechtsdirektor, bereits 1969 gelungen war, gegen den versammelten Widerstand der Löbbert-Gruppe zum Landtagskandidaten nominiert zu werden. Egbert Reinhard war damit ab 1970 gewählter Landtagsabgeordneter und verfügte so als überörtlicher Mandatsträger über eine gewichtige Stimme in der Partei. Da sich beide zudem betont fortschrittlich und links gaben (was bei Egbert mit Sicherheit inhaltlich mehr zutraf als bei Heinz Meya), waren sie die geborenen Bündnispartner für die Jusos. Umgekehrt brauchten sie uns aber auch – sozusagen als Speerspitze, da sie selbst wegen ihrer Doppelrolle als Außenseiter und Amtsträger in einer Person mehr Rücksichten zu nehmen hatten und vorsichtiger agieren mussten, als es bei uns „Frischlingen“ der Fall war. Die Kombination war ideal, und sie trug ihre ersten Früchte, als der Parteitag am 1.7.1970 eine Kommission zur Reformierung der Parteiarbeit einsetzte. Da das Gegenlager der Kommission offensichtlich keine besondere Bedeutung zumaß, ließ man es geschehen, dass Heinz Meya ihr Vorsitzender wurde. Die Zusammensetzung der Kommission bestand zudem aus Menschen, die tatsächlich die Parteiarbeit verbessern wollten (Mitglieder waren auch Poß und Woiwod). Diese Nachlässigkeit sollte sich neben der sofortigen öffentlichen Eskalation als zweiter schwerer Fehler der Etablierten zu einem Zeitpunkt erweisen, als eigentlich noch gar nichts passiert war. Zwei zentrale Politikfelder waren es, die die damaligen Juso-Aktivitäten in Gelsenkirchen dominierten: die innerparteiliche Demokratie und die Kommunalpolitik. Natürlich waren wir auch auf vielen anderen Gebieten rührig.

► So versuchten wir zusammen mit den Gewerkschaften, Betriebsräte dort zu installieren, wo es noch keine gab (eine Art Juso-Betriebsarbeit, die aber scheiterte und scheitern musste).

► Wir machten Anti-Bildzeitungs-Aktionen und

► stiegen für Willy Brandt und die Ostpolitik in den Ring.

► Wir bekämpften Strauß, die CDU/CSU, die Junge Union, die DKP/SDAJ und selbstverständlich den aufkommenden Neonazis-mus.

► Wir machten Front gegen den sog. „Radikalenerlass“ von 1972,

► beteiligten uns an den diversen bundesweiten Programmdiskussionen der SPD und der Jusos,

► kreierten erste Formen der Ausländerarbeit,

► machten eine Kampagne für das Grundgesetz,

► unterstützten die Forderung nach einem selbstverwalteten Jugendzentrum (das KOMIC wurde im Arminbunker realisiert, driftete aber später in die Anarcho-Szene ab und überlebte nicht),

► forcierten die Bildungspolitik,

► gründeten einen Juso-Schülerbund (meine Erfindung) als Gegengewicht zur rechten Schüler-Union – und so weiter und so fort. Trotzdem! Nichts bestimmte stärker das Bild der Jahre zwischen 1970 und 1975 als die beiden eingangs genannten Themenkreise. Das hatte zwei Gründe: – Einmal hatten wir hier einen unmittelbaren Gestaltungsspielraum, der von enormer politischer Relevanz war. – Zum anderen entzündeten sich an ihnen in besonderem Maße die inhaltlichen und personellen Konfliktlagen der Ortspartei. Hier wurden die unterschiedlichen Auffassungen ganz konkret. Hier wurde ganz konkret gekämpft, gewonnen oder verloren.

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Von Hans Frey

Hans Frey (geb. 24.12.1949 in Gelsenkirchen, verw., drei Kinder) studierte Germanistik und Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und arbeitete dann als Studienrat an einem Gelsenkirchener Gymnasium. 1980 wurde er in den Landtag von Nordrhein-Westfalen gewählt, dem er bis 2005 angehörte. Seit dieser Zeit lebt er (formal) im Ruhestand. Neben der Politik war und ist Hans Frey publizistisch und künstlerisch engagiert. U. a. kreierte er 1996 als Drehbuchautor und Regisseur die Stadtrevue „Ja, das alles und mehr…“, gab sieben Jahre lang das Stadtmagazin DIE NEUE heraus und gehörte 2004 zu den Mitinitiatoren der Kunstausstellung RUHRTOPIA in Oberhausen. Im September 2007 war er Mitbegründer von gelsenART e. V., Verein zur Förderung von Kunst und Kultur im Ruhrgebiet. Unter seinen Buchveröffentlichungen finden sich u. a. - der fantastische Roman „Die Straße der Orakel“, der in einer Antike spielt, die man so aus den Geschichtsbüchern nicht kennt (2000), - das Sachbuch „Welten voller Wunder und Schrecken – Vom Werden, Wesen und Wirken der Science Fiction“ (2003), ein umfangreiches Werk, das alle Facetten der Science Fiction beleuchtet, - und sein aktuell letztes Buch (September 2009), der erste Band seiner politischen Autobiografie „Ja, das alles und mehr! – Geschichte und Geschichten aus 35 Jahren Politik“ mit dem Titel: „Wilder Honig“.

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