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So paradox es klingt: Das Jahr 1972, das prall gefüllt war mit Schlüsselereignissen, die sich sonst in einem Jahrzehnt nicht abspielen (der Kampf um die Ostpolitik und um innere Reformen, das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt,

die für die SPD grandios gewonnene Bundestagswahl, aber auch das schreckliche Attentat bei den Olympischen Spielen in München), war gleichzeitig für die innerparteiliche Auseinandersetzung der GE-SPD so etwas wie eine Atempause.

Natürlich brodelte er untergründig weiter. V. a. in den Ortsvereinen wurde hartnäckig um jeden Zentimeter politischen Bodens gekämpft. Schließlich ging es um Vorstandsfunktionen und Delegiertenmandate, die den Ausschlag gaben für Macht oder Ohnmacht bei der Meinungsführung und den Entscheidungen auf dem Parteitag.

Mittlerweile boomte es regelrecht bei den Jusos (und der SPD). Entsprechend waren auf der Leitungsebene der Jusos viele neue Gesichter aufgetaucht, z. B. Dieter Rauer, Paolo Lavista, Fritz Brüggemann, Lutz Dworzak, Jörg Reimann, Ingo Westen, Aki Broekmann, Gerd Dannapfel, Willi Maszun, Manfred Totzek und andere – übrigens, wie man sieht, eine reine Herrenriege.

Genossinnen gab es zwar auch, aber nicht in Führungsfunktionen, was belegt, dass Gleichstellungspolitik bei uns (wie auch in der Gesamtpartei) noch kein wirklich ernsthaftes Thema war. In dieser Frage waren selbst wir Jusos noch ziemlich rückständig.

Die „Neuen“ wie selbstverständlich auch Jochen Poß, Kurt Woiwod und ich hatten neben der UB-Ebene immer auch ein Standbein in einem Ortsverein, um dort – und nur dort an der Basis ging es – für neue Mehrheiten zu sorgen. Das war zum überwiegenden Teil ein zähes, mühseliges Geschäft, das viel Zeit und Nerven kostete. In einigen Ortsvereinen nahmen die Kontroversen sogar Formen an, die jegliches Niveau vermissen ließen (z. B. in Horst-Süd mit dem unsäglichen Vorsitzenden Weispfennig, einem zwielichtigen und gestörten Menschen, der später wegen nachgewiesenen Wahlbetrugs rechtskräftig verurteilt werden sollte).

Gingen also die Grabenkämpfe munter weiter, so ist das Wort von der „Atempause“ doch gerechtfertigt, weil im Gegensatz zu 1971 die großen lokalen Highlights fehlten. Das ist auch schnell erklärt, denn diesmal lieferte die Bundespolitik die Highlights, und diese beschäftigten uns alle, egal wo wir innerparteilich standen. Man kann sogar von einem gewissen Burgfrieden sprechen, denn jetzt ging es darum, sich als gesamte Sozialdemokratie gegen den vereinigten Rechtskonservatismus in der Republik zu behaupten.

Es versteht sich von selbst, dass wir, ohne zu zögern, für Josef Löbbert und Hans Gertzen, die wieder für den Bundestag nominiert worden waren, Wahlkampf machten. Und das, obwohl wir natürlich versucht hatten, Selbiges zu verhindern. Zu dieser Zeit gehörte es bei den Jusos zum guten Ton, Alternativkandidaten aufzustellen – so natürlich auch in Gelsenkirchen.

Jochen Poß trat an und wurde von den Jusos mit überwältigender Mehrheit nominiert. Die Gesamtpartei vollzog diesen Schritt allerdings (noch) nicht. Es war zu früh gewesen, aber dennoch war die Aktion nicht ohne Sinn. Der Partei wurde nach langer Zeit eine personelle Alternative angeboten, die man zwar zu diesem Zeitpunkt noch nicht akzeptierte, die aber etwas bewegte.

Es dauerte noch acht Jahre, bis Jochen das Mandat bekam – das allerdings dann so nachhaltig, dass er inzwischen zum Urgestein des Bundestags gehört. Ich erinnere mich an 1972 auch deshalb sehr gerne, weil zu jener Zeit eine politische Atmosphäre herrschte, die ich in dieser Frische und Zukunftszugewandtheit nie mehr wieder erlebt habe. Während Teile der Konservativen auf primitivstem und unanständigstem Niveau agitierten (z. B. wurde Willy Brandt „vorgeworfen“, ein uneheliches Kind zu sein – unglaublich!), gab es in der breiten Bevölkerung (und in Gelsenkirchen allemal) eine durchgehende Stimmung, die von einem bislang nie dagewesenen Enthusiasmus und Optimismus getragen wurde.

Wir taten alles, um Willy Brandt und die SPD zu unterstützen – auch überörtlich. Zwei große Veranstaltungen sind bei mir noch haften geblieben. Einmal die Kundgebung in der Philips-Halle in Düsseldorf, auf der Willy vor 7000 jungen Leuten sprach. Damals fand ich, Brandt hätte mehr auf die Pauke hauen sollen. Heute weiß ich, dass er in dem aufgeheizten Klima immer wieder bremsen musste, um zu verhindern, dass wir uns zu unüberlegten Handlungen hinreißen ließen.

Dann gab es am Vorabend des Misstrauensvotums eine Großkundgebung auf dem Rathausplatz in Bonn, zu der der Juso-Bundesvorstand, die Falken, die Jungdemokraten und noch einige andere Jugendverbände aufgerufen hatten. Der Andrang war so groß, dass die Einfallstraßen nach Bonn heillos verstopft waren. Als wir uns endlich doch noch bis zum Rathaus durchgeschlagen hatten, wurde die Veranstaltung gerade beendet. Enttäuscht waren wir trotzdem nicht, denn der Sinn der Sache hatte sich erfüllt: Die demokratische Jugend der Republik hatte machtvoll demonstriert, was sie von dem Versuch der CDU/CSU, Brandt als Bundeskanzler zu stürzen, hielt – nämlich rein gar nichts!

Am Tag des Misstrauensvotums herrschte in Gelsenkirchen Generalstreikstimmung. Am Vormittag lief nichts mehr. Die Straßenbahnen standen still, in vielen Betrieben hatte man die Arbeit niedergelegt, und etliche Geschäfte hatten vorübergehend geschlossen, da sowieso keine Kunden zu bedienen waren. Alles hockte vor den Fernsehern, die die Geschehnisse live aus dem Bundestag übertrugen. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn das Misstrauensvotum Erfolg gehabt hätte. Mit Sicherheit hätte es mittlere Erdbeben gegeben – Richterskala nach oben offen. Doch glücklicherweise hat die Entwicklung einen anderen Verlauf genommen.

Selbstverständlich saß auch ich zitternd und bebend zusammen mit meiner Mutter vor der „Glotze“ in unserem Wohnzimmer. Dann die Erlösung! Mit starrer Miene verkündete Bundestagspräsident Kai Uwe von Hassel das Ergebnis, das in einem vielstimmigen Jubel unterging, nicht nur im Parlament, sondern auch in ganz Gelsenkirchen und im Wohnzimmer der Familie Frey.

Nun geschah noch etwas Erstaunliches! Meine Mutter hatte ganz oben auf einem Regal eine Flasche Sekt für einen ganz besonderen Zweck liegen. Sie sollte nämlich erst dann geöffnet werden, wenn sich die ersehnten sechs Richtige im Lotto eingestellt hätten. In diesem Moment war selbiger Vorsatz passé. „Jetzt trinken wir ein Glas Sekt, Lotto hin oder her!“ sagte meine Mutter und köpfte die „heilige“ Flasche.

So kam das prickelnde Getränk doch noch zu Ehren, da es anderenfalls wohl auf dem Regal verrottet wäre. Denn sechs Richtige im Lotto hat meine Mutter nie gehabt.

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Von Hans Frey

Hans Frey (geb. 24.12.1949 in Gelsenkirchen, verw., drei Kinder) studierte Germanistik und Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und arbeitete dann als Studienrat an einem Gelsenkirchener Gymnasium. 1980 wurde er in den Landtag von Nordrhein-Westfalen gewählt, dem er bis 2005 angehörte. Seit dieser Zeit lebt er (formal) im Ruhestand. Neben der Politik war und ist Hans Frey publizistisch und künstlerisch engagiert. U. a. kreierte er 1996 als Drehbuchautor und Regisseur die Stadtrevue „Ja, das alles und mehr…“, gab sieben Jahre lang das Stadtmagazin DIE NEUE heraus und gehörte 2004 zu den Mitinitiatoren der Kunstausstellung RUHRTOPIA in Oberhausen. Im September 2007 war er Mitbegründer von gelsenART e. V., Verein zur Förderung von Kunst und Kultur im Ruhrgebiet. Unter seinen Buchveröffentlichungen finden sich u. a. - der fantastische Roman „Die Straße der Orakel“, der in einer Antike spielt, die man so aus den Geschichtsbüchern nicht kennt (2000), - das Sachbuch „Welten voller Wunder und Schrecken – Vom Werden, Wesen und Wirken der Science Fiction“ (2003), ein umfangreiches Werk, das alle Facetten der Science Fiction beleuchtet, - und sein aktuell letztes Buch (September 2009), der erste Band seiner politischen Autobiografie „Ja, das alles und mehr! – Geschichte und Geschichten aus 35 Jahren Politik“ mit dem Titel: „Wilder Honig“.

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