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Frage an Nicht-Lehrer:

Welches technische Gerät kommt in der Schule am häufigsten zum Einsatz? Der PC, der Laptop, der Beamer, der Overhead-Projektor, der ELMO (die Dokumentenkamera ist gemeint, nicht das rothaarige Monster aus der –amerikanischen – Sesamstraße)?

 

Weit gefehlt. Die richtige Antwort lautet: der Kopierer.

Warum das so ist? Darauf gibt es zwei Antworten: eine seriöse und eine hypothetische (wahrscheinlich aber richtige).

Zunächst die seriöse.

Dass der Kopierer an der Spitze aller technischen Geräte in einer Schule steht, hat etwas mit der Veränderung von Unterricht zu tun. Früher (ich bin fast geneigt zu sagen: in den guten alten Zeiten) arbeitete man im Unterricht häufig mit einer Erfindung, die einigen noch unter dem Namen „Buch“ bekannt ist.

Ein Buch ist ein Gegenstand, der meistens viele, oft auch komplizierte Sätze enthält, die häufig zu längeren Texten zusammengefügt sind. Ein Schimpfwort für ein Buch ist „Bleiwüste“, was auf die Ursprünge der Drucktechnik verweist. Manchmal sind Bücher, jedenfalls die für den Unterricht, mit Abbildungen ausgestattet – das können z.B. Graphiken sein, Tabellen, Reproduktionen von Fotos oder Gemälden. Das sind aber nahezu Fremdkörper im Buch, sozusagen Oasen in der Bleiwüste.

Erschwerend, was den Einsatz von Büchern angeht, kommt hinzu, dass sie „schwer“ sein können – einmal vom Gewicht her, dann aber auch wegen der Sätze, die sich zu längeren Texten aufbauen. Sie machen also den Tornister des Schülers schwer – und manchmal auch den Kopf. Das kann wiederum zu Schäden bei Schülern führen: einmal, des Gewichtes wegen, zu Blockaden an der Wirbelsäule, dann aber auch, der langen und vielen Sätze wegen, zu Blockaden im Kopf.

Jedenfalls bei der jüngeren Generation.

Die ist in der Verwendung längerer schriftlicher Äußerungen eher ungeübt und bevorzugt stattdessen Kurzformen schriftlicher Mitteilungen, z.B. die SMS (Short Message Service), die eine Obergrenze von 160 Zeichen hat. Da sind lange Texte dann doch die Ausnahme, was zur Beliebtheit dieser Kommunikationsform schriftlicher Art beigetragen hat. Wurden 1996 in Deutschland 0,1 Milliarden SMS verschickt, so waren es 2011 bereits 55 Milliarden. Man kann auch noch twittern, also tweets verfassen (nein, nicht Tweed, das ist ein Stoff!) – da liegt die Grenze bei 140 Zeichen.

Wo bleibt jetzt der Kopierer? Moment noch!

Also, weil das so ist, also weil Schüler geübt sind im Verfassen und Lesen von tweets und esemessen, fällt ihnen das Lesen längerer Sätze und gar erst längerer Texte immer schwerer. Will man also die Schüler da abholen, wo sie sind – das ist eine Maxime der Pädagogik – in unserem Fall also bei maximal 160 bzw. 140 Zeichen, kann man nicht mehr mit Büchern im Unterricht arbeiten (zur Erinnerung: das sind diese Bleiwüsten mit den längeren Texten).

Folglich wird das Buch ersetzt durch: das Arbeitsblatt. Auf einem Arbeitsblatt bringt man kürzere Texte unter, die dadurch entstehen, dass man längere Texte soweit kürzt, so dass sie wie eine SMS erscheinen. Jetzt fehlt nur noch ein Arbeitsauftrag unter der Kurznachricht (möglichst kurz gefasst) – und man hat sogar noch Platz für ein Bildchen, einen lustigen Smiley oder eine ornamentale Verzierung (wenn man es kreativer will).

Und jetzt sind wir auch beim Kopierer – denn das Arbeitsblatt muss vervielfältigt werden. Und weil das jeder Lehrer macht, für jede Stunde, jede Klasse und jedes Fach – ist der Kopierer weit vor allen anderen Gerätschaften die wichtigste technische Errungenschaft an der heutigen Schule.

Soweit also die seriöse Antwort.

Jetzt die hypothetische (und wahrscheinlich richtige). Man stelle sich einen Raum vor- etwa sechs Quadratmeter groß. In diesem Raum (es könnte der Kopierraum meiner Schule sein) stehen zwei Kopiergeräte und eine Reihe von Europaletten, auf denen das Kopierpapier gestapelt ist. In diesem Raum befinden sich kurz vor Beginn des Unterrichts gut acht bis zehn Kolleginnen und Kollegen, die alle noch für die kommenden Stunden ihre Arbeitsblätter kopieren müssen. Behaupten sie! In Wirklichkeit, das ist meine (Hypo-) These, suchen sie in dem viel zu kleinen, stickigen, vom Lärm und der Hitze der im Dauerbetrieb ratternden Kopiergeräte angefüllten Raum nichts anders als körperliche Nähe, den Reibungskontakt zu ihren Mitmenschen, weil sie sich als Mensch erfahren wollen.

Kurz und gut (jetzt spreche ich es aus): die meisten von ihnen sind Frotteure – und der Kopierraum ist ihre Kontaktbörse, ihr Reibungspunkt, ihr — Paradies! Deshalb also die vielen Arbeitsblätter!

Notwendiger Nachtrag: natürlich gab es auch in früheren Zeiten (ich bin fast geneigt zu sagen: in den guten alten Zeiten) gelegentlich Arbeitsblätter. Die waren an einer Schreibmaschine (noch bekannt?) verfasst und bestanden zumeist aus einer ganzen Seite Text. Vor allem aber vervielfältigte man diese Arbeitsblätter auf einem Spirit-Carbon-Gerät, in das man die Matrize einspannte.

Dieses Verfahren hatte zwei Vorteile. Erstens: Man konnte von der Vorlage maximal 200 Abzüge machen, deren blauer Grundton noch dazu im Laufe der Zeit verblasste und unleserlich wurde. Folglich konnte man ein solches Arbeitsblatt nicht sehr häufig einsetzen, so dass man regelmäßig neue Vorlagen anfertigen musste und der Unterricht somit immer auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft sein konnte. Und die Arbeitsblätter strömten durch die beim Vervielfältigen verwendete Flüssigkeit einen berauschenden Geruch aus, der den Unterrichtenden (und manchmal auch die Schüler) in Euphorie versetzen konnte.

Das Spirit-Carbon-Verfahren war also das Paradies für Schnüffler. {jcomments on}

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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