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Unsere Situation hat Ibn Chaldun schon verstanden, bevor wir überhaupt erst gemerkt haben, dass wir ihn ihr stecken. Zwei Fragen stellen sich also jetzt:
Wer ist Ibn Chaldun und
Welche Situation?

Ibn Chaldun war Verfasser einer Universalgeschichte der islamischen Völker seiner Zeit, dem Werk »al-Kitabu l-ʻibar«. Ibn Chaldun lebte von 1332 bis 1406. Also geht es um den Islam?
Es geht nicht um den Islam, sondern um die Beobachtungen, die Ibn Chaldun in seiner Einleitung (im Original »Muqaddimah«) gemacht hat. Ohne Übertreibung kann man Ibn Chaldun als Vorläufer der modernen Soziologie betrachten. Er beschrieb detailliert die Mechanismen, die innerhalb einer Gesellschaft wirken und letztendlich über deren Schicksal entscheidet. Nicht notwendigerweise muss sie nämlich durch äußere Einflüsse zu Fall gebracht werden. Wir haben in den letzten 30 Jahren eine Reihe von Gesellschaften und Staaten zusammenbrechen sehen. Die kommunistischen Staaten brachen zusammen und wenn man Ibn Chaldun nach der Ursache fragen würde, würde er uns bestätigen, dass nicht die weiterentwickelte Demokratie die Ursache dafür war. Es war also kein Sieg im Krieg der Systeme.
Chaldun beobachtete, dass Gesellschaften oder Zivilisationen, die zu einem entscheidenden Faktor in einer Region wurden, häufig einen prosperierenden Höhepunkt erlebten und dann ein Niedergang oder sogar ein Verfall einsetzte. Meist wurde die Zivilisation durch nachrückende Kräfte ersetzt, oder wie Ibn Chaldun es beobachtete »die Barbaren festigen ihre Kontrolle über eine Gesellschaft« und werden nach deren Höhepunkt wiederum niedergerungen.
Was, nach Ibn Chaldun, zum Niedergang führt, ist ein Mangel an »Asabiyyah«. Und damit sind wir bei der Situation unserer Gesellschaft. Sowohl im städtischen Gefüge, als auch im größeren.
»Asabiyyah« könnte man einfach mit »Bindung« übersetzen, tatsächlich meint es auch den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft. Solidarität untereinander, die sich aus dem Bewusstsein ergibt, zu einer gemeinsamen Gesellschaft zu gehören. Asabiyyah könnte man vielleicht auch » sozialen Kitt« nennen. Das meint grundsätzlich, dass man sich zueinander sozial verhält, aber auch anderen gegenüber und dass der Staat ebenfalls verantwortlich handelt.
Diese »Asabiyyah« geht verloren, wenn die Städter (um bei Ibn Chalduns Perspektive zu bleiben) einen gewissen Grad der Sättigung und des Luxus erreicht haben. Sie werden satt und faul und möchten ihren Status natürlich gerne erhalten. Auf der anderen Seite gibt es Unzufriedene. Aber die Satten werden sich zunehmend weniger kümmern wollen. Für die Gesellschaften, die Ibn Chaldun beschrieb, war klar, dass sich die faulen Städter immer weniger denjenigen entgegensetzen konnten, die es gewohnt waren, für ihr Überleben zu kämpfen. Die Wüstenvölker übernahmen wieder das Ruder.
Oder die Regierung beginnt damit, die überfordern Bürger zu überfordern und immer mehr Steuern zu verlangen, um den Status zu halten. Es kommt zu Ungerechtigkeiten und der Missachtung von Eigentumsrechten. Genau dies, so Ibn Chaldun, würde eine Gesellschaft ruinieren. An die Stelle der alten Asabiyyah tritt dann eine neue. Bis auch diese sich auflöst und wiederum durch eine weitere ersetzt wird.
Und da sind wir bei unserer Situation: Eine Gesellschaft, die vermehrt darauf setzt, Besitz wahren zu wollen und einen gewissen Grad des Komforts nicht zu verlieren. Moralische Standards und Verantwortung gerade auch in der Hand der Einzelnen, verlieren ihre Attraktivität, weil sie das Leben einzuschränken scheinen. Nur: Der Staat wird es nicht richten und wenn wir nach ihm rufen, wissen wir eigentlich schon: Wir sind selber schon zu faul dafür. Das beginnt schon im kleinen Maßstab. Im Hausflur lässt man den Putz abblättern, Müll wird nicht aufgehoben (»Hab ich doch nicht gemacht?!«), öffentliche Räume verkommen. Soziale Initiativen aller Art beklagen einen Rückgang von Aktiven. Von religiösen Gruppen ganz zu schweigen. Mitglieder gewinnen nur die Gruppen mit recht simpler Ideologie, die es schaffen ein Versprechen zu geben, nach dessen Erfüllung sich die Menschen dringend sehnen. Das könnte bereits eine neue »Asabiyyah« werden. Wie wir wissen, muss sich nicht einmal die bessere Ideologie sein. Sie muss einfach warten, bis die alte von selber zusammenbricht. Der Prozess ist nicht irreversibel. Es muss nur damit begonnen werden.

Der Text der Muqaddimah ist hier in einer vollständigen englischen Übersetzung verfügbar: www.muslimphilosophy.com/ik/Muqaddimah/Table_of_Contents.htm

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Von Chajm Guski

Chajm ist begeisterter Bewohner des Ruhrgebiets (könnte sich grundsätzlich aber auch vorstellen, woanders zu leben), Herausgeber von talmud.de, Organisator des Minchah-Schiurs im Ruhrgebiet, Blogger, Autor von Artikeln und Glossen in der„Jüdischen Allgemeinen”. Zudem ist er ein Early Adaptor der vielen technischen Spielereien, die das Internet jeden Tag hervorbringt. Einige werden auch hier dokumentiert.

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