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12. Tag, morgens

Der dunkelgrüne Wagen hielt im Innenhof. Ihm entstiegen zwei Männer in voll korrekten Anzügen, beide hatten ein Parteiabzeichen am Revers, eingefasst von  einem goldenen Eichenlaubkranz.

„Ganz hohe Tiere“, sagte Manni, mit dem ich über den Hof schlenderte, während wir auf das Glockenzeichen zum Frühstück warteten. Ohne Verzögerung und ohne uns weiter zu beachten, verschwanden die beiden Männer im Gebäude.

„Sie kommen wegen Qualle.“

„Was ist mit Qualle?“ fragte ich.

„Wollte ich dir schon gestern Abend sagen, aber du warst irgendwie weggetreten. Sie kommen wegen Qualle.“

„Ich dachte, du hast Qualle erwähnt, weil….“

Die Glocke ertönte.

„Was hast du gedacht? Lass uns reingehen. Wir reden nachher weiter.“

Im Saal waren statt der üblichen vier Wachhabenden acht aufgezogen, die nicht nur ihre Bambusstöcke bei sich hatten, sondern auch ihre Dienstwaffen.

Als alle Tische besetzt waren, trat Gräffke an die Kopfseite des Saales. Auch er trug seine Dienstwaffe.

Die Gespräche an den Tischen verstummten.

Gräffke stellte sich breitbeinig auf. Auf seinem Kahlkopf waren vereinzelte Schweißperlen zu sehen.

„Ich bin befugt, Ihnen mitzuteilen, dass gegen den Anstaltsleiter eine …“

Ein Stimme von einem der hinteren Tische rief: „Der Mann hat doch einen Namen, oder!“

„…der hier nichts zur Sache tut. Ich bin befugt, Ihnen mitzuteilen, dass gegen den Anstaltsleiter eine Untersuchung eingeleitet wird und dass ich bis zum Abschluss des Verfahrens seine Funktionen wahrnehmen werde. Ich werde diese Anstalt wieder nach den korrekten Regeln führen, die in letzter Zeit etwas vernachlässigt worden sind. Schlendrian, egal in welchen Arbeitsbereichen, werde ich ebenso wenig dulden wie obstruktives Verhalten in irgendeiner Form.“

Wieder eine Stimme von einem der Tische:

„Obstruktives Verhalten – kenne ich nicht. Ich kenne nur obstruktive Bronchitis.“

Gedämpftes Lachen im Saal, vereinzelter Beifall.

schachschwein„Damit Sie gleich merken, was gemeint ist“, schnarrte Gräffke  in den Saal, „setze ich das Frühstück für heute aus. Zudem werden die Essenzeiten morgens, mittags und abends um jeweils 30 Minuten auf eine halbe Stunde verkürzt. Das bedeutet für den heutigen Morgen: Arbeitsbeginn in allen Abteilungen um 8.30 Uhr. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Vormittag!“

Seine Männer nahmen vor der Ausgabetheke mit dem Frühstück Aufstellung. Sie schlugen mit ihren Bambusstöcken leicht vor die Schäfte ihrer Stiefel.

„Schade um das schöne Frühstück“, meinte Kotzer beim  Hinausgehen, „Gratzek soll sich beim Kaffeekochen mächtig engagiert haben. Gehen wir auf den Hof!“

Zunächst standen außer uns dort nur drei oder vier andere Männer; leise wurden Worte gewechselt. Allmählich wurden wir immer mehr. Alle schienen heute das Bedürfnis zu haben, vor dem Beginn der Arbeit noch einmal nach draußen zu gehen.

Schließlich traten die beiden Anzugträger auf den Hof, in ihrer Mitte Qualle, eskortiert von zwei Wachleuten. Ohne dass jemand ein Zeichen gegeben hätte, bildeten wir eine Reihe, die von der Tür des Speisesaals bis zur Mitte des Hofs, wo der grüne Wagen geparkt war, reichte. Wer begann, weiß ich nicht mehr, ich konnte die Stimme nicht zuordnen. Es war zu Beginn auch eher ein Hauchen, ein Flüstern, ein Zischeln, das dann aber in ein artikuliertes Rufen überging.

„Wallbaum, Wallbaum, Wallbaum!“

Aus der Stimme eines Einzelnen wurden drei, vier, 10, 15 Stimmen – bis alle in den „Wallbaum, Wallbaum“-Ruf einfielen und zu einer einzigen Stimme wurden. Meine Stimme fehlte allerdings.

Die beiden Anzugträger und die sie begleitenden Wachleute waren irritiert. Einer von ihnen sprach etwas in sein Sprechfunkgerät, was aber bei der Lautstärke der Rufe nicht zu verstehen war.

Ich erblickte sie an einem der Fenster des Obergeschosses. Sie sah auf den Hof hinab und weinte. Als sie meinen Blick erfasste, verließ sie das Fenster.

Inzwischen war die Gruppe am Wagen angekommen. Als der eine der beiden Anzugträger Qualle in den Wagen drücken wollte, riss er sich los, drehte sich zu uns um und winkte. Er winkte uns zu und ballte seine Rechte zur Faust.

In die Stille, die nach diesem Gruß Wallbaums plötzlich eintrat, brach das Knacken ein, als einer der Wachleute ihm das rechte Handgelenk brach. Er stieß Wallbaum, der keinen Ton sagte, aber dessen Gesicht schmerzverzerrt war, mit Gewalt in den Wagen.

Die Rufe wurden wieder aufgenommen, lauter als zuvor. Selbst ich drückte meine Enttäuschung, meine Eifersucht  und meinen Kummer weg und stimmte schließlich ein. Qualle war auch für mich nun zu Wallbaum geworden.

Der Wagen startete, das Tor öffnete sich und schloss sich wieder, als das Fahrzeug den Hof verlassen hatte.

In dem Moment erreichte eine Gruppe von Wachleuten mit Gräffke an der Spitze den Hof.

„Los!“ wies er seine Leute an.

Das Zischen der Stöcke erfüllte die Luft, als die Wachleute begannen, auf uns einzuprügeln.

Gräffke meinte es wohl ernst.{jcomments on}

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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