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Nein, endgültige Gewissheiten zur geschwisterlichen Liebe zwischen Georg Trakl und seiner jüngeren Schwester Margarethe (Grete) gibt es nicht. Keine Dokumente in Form von Briefen, Tagebuchaufzeichnungen oder gar Schuldbekenntnissen belegen die inzestuöse Beziehung zwischen dem österreichischen Lyriker und seiner musikalisch begabten Schwester.

Es gibt Indizien, Vermutungen, Hinweise : so etwa die Tatsache, dass die am 8.August 1891 als jüngstes Kind von Tobias Trakl und seiner Frau traklMaria in Salzburg geborene Margarethe im Alter von zehn Jahren, ganz gegen die Konventionen der Zeit, aus der Schule in Salzburg genommen und zu den „Englischen Fräulein“ von St. Pölten geschickt wurde. Ihr Weg führte sie dann von diesem strengen katholischen Mädchenpensionat in die Schule des Erziehungsheims Notre Dame de Sion in Wien. Dass das junge Mädchen aus der vertrauten familiären Welt in ein Mädchenheim geschickt wurde, lässt ungewöhnliche Ereignisse in der Familie vermuten. Aber nichts Eindeutiges kann belegt werden. Dass Trakl seine Schwester recht früh in die Welt des Drogenmissbrauchs einführte und sie schwerstabhängig wurde, ist allerdings historisch gesichert.

Die Annahme, dass die Beziehung zwischen Georg Trakl und seiner Schwester den Bezirk geschwisterlicher Liebe verlassen und sich zum Inzest entwickelt hat, stützt sich wesentlich auf das Werk Georg Trakls selbst, in dem Verweise auf die Schwester und die Beziehung zu ihr vielfach zu finden sind.

Nun ist es Allgemeingut in der Literaturwissenschaft, dass der Erzähler eines Textes und der Sprecher im Gedicht ästhetische Elemente, nicht aber identisch mit dem Autoren-Ich sind. Trakls Werk ist aber so eng mit der Person und Persönlichkeit des Autors, mit dem schöpferischen Ich selbst verbunden, die Hinweise auf die Schwester sind derart zahlreich, dass die Annahme einer inzestuösen Beziehung hier ihren Nährboden findet.

So lautet die erste Strophe von Trakls Gedicht „Blutschuld“:

Es dräut die Nacht am Lager unserer Küsse.

Es flüstert wo: Wer nimmt von euch die Schuld?

Noch bebend von verruchter Wollust Süße

Wir beten: Verzeih uns, Maria, in deiner Huld!“

Und im zweiten Terzett von „Traum des Bösen“ heißt es:

Des Vogelfluges wirre Zeichen lesen

Aussätzige, die zur Nacht vielleicht verwesen.

Im Park erblicken zitternd sich Geschwister.“

In beiden Textausschnitten wird, ganz unabhängig von der Frage, ob die Geschwisterliebe nun inzestuösen Charakter hatte oder nicht, noch etwas anderes deutlich, nämlich die Last der Schuld, denn Trakl verwendet nicht das Wort Blutschande, sondern titelt „Blutschuld“, und der Traum wird als Traum des „Bösen“ gekennzeichnet.

In „Andacht“ kippt die in den Quartetten durchaus noch positive Stimmung in den Terzetten ins Düstere und Dunkle-Schuldbeladene. Das zweite Terzett lautet:

Da schimmert aus verworrenen Gestalten

Ein Frauenbild, umflort von finstrer Trauer,

Und gießt in mich den Kelch verruchter Schauer.“

Dieses Schuldgefühl, nicht nur gegenüber der Schwester selbst, sondern ein Schuldgefühl, das bei Trakl entsteht durch das Überschreiten moralischer, ethischer und religiöser Grenzen, wird zum Begleiter des Dichters und verstärkt seine melancholisch-depressive, von Zweifeln, Selbstzweifeln und Angst, ein Versager zu sein, durchzogene Existenz , die auf der anderen Seite durch Drogenmissbrauch und rauschhafte Exzesse bestimmt wird.

In „Traum und Umnachtung“ finden wir zu Beginn ein Familienbild und ein Selbstbildnis, wie sie bestürzender nicht sein könnten:

Am Abend ward zum Greis der Vater; in dunklen Zimmern versteinerte das Antlitz der Mutter und auf dem Knaben lastete der Fluch des entarteten Geschlechts. Manchmal erinnerte er sich seiner Kindheit, erfüllt von Krankheit, Schrecken und Finsternis, verschwiegener Spiele im Sternengarten oder daß er die Ratten fütterte im dämmernden Hof. Aus blauem Spiegel trat die schmale Gestalt der Schwester und er stürzte wie tot ins Dunkel.“

Im Herbst 1908 begibt sich Georg Trakl nach Wien, um sein Pharmaziestudium aufzunehmen, im September 1909 folgt Grete in die Kaiserstadt, wo sie ihr Klavierstudium beginnt. Die gemeinsame Phase in Wien ist bestimmt durch sich steigernden Opiumgenuss bei Grete und durch euphorische Schübe bei Trakl, die sich mit Abstürzen abwechseln.

Im Sommer 1910 geht Grete nach Berlin, um dort ihr Studium fortzusetzen, während Trakl sein Examen als Pharmazeut in Wien macht. Grete lernt den Buchhändler Arthur Langen kennen, den sie 1912 heiratet, was in ihrem Bruder tiefe Depression, Eifersucht und Verzweiflung auslöst. Trakl stürzt sich in seine literarische Arbeit, einige Gedichte erscheinen in der Zeitschrift „Brenner“ (u.a. das bekannte „Vorstadt im Föhn“), und Trakl beginnt damit, Gedichte für eine Sammlung zusammen zu stellen.

Gretes Ehe verläuft nicht glücklich; sie flüchtet sich in Bekanntschaften und das Rauschgift. Häufig taucht die Ansicht auf, Trakl könne der Vater des Kindes sein, das Margarethe im März 1914 durch eine Fehlgeburt (oder eine Abtreibung) verlor. Verzweifelte Passagen in Briefen Georg Trakls könnten darauf hindeuten – jedenfalls reist er nach Berlin, um der Schwester beizustehen, der er, aus Zuneigung und Schuldgefühlen gleichermaßen, immer wieder Denkmale in seinen Gedichten setzt, wo sie als Mönchin, sanfte Waise oder blaues Wild erscheint.

Trakl ist sich dabei wohl bewusst, dass er zur Zerstörung seiner Schwester beigetragen hat.

In „De profundis“ finden wir die Zeilen:

Am Weiler vorbei

Sammelt die sanfte Waise noch spärliche Ähren ein.

Ihre Augen weiden rund und goldig in der Dämmerung

Und ihr Schoß harret des himmlischen Bräutigams.

Bei der Heimkehr

Fanden die Hirten den süßen Leib

Verwest im Dornbusch.

(…)

Nachts fand ich mich auf einer Heide,

Starrend vor Unrat und Staub der Sterne.

Im Haselgebüsch

Klangen wieder kristallne Engel.“

Auffällig sind die in Trakls Gedichten häufig vorkommenden Begriffe mit Bezug zu christlichen Kontexten, hier etwa himmlischer Bräutigam, Hirten, Dornbusch, Engel. Und der Titel verweist direkt auf den Psalm 130,1: „Aus der Tiefe (=de profundis, BM) rufe ich, Herr, zu dir.“ Verkündet der Psalm aber von Erlösung, weil sich der angerufene Herr (Gott) nicht vom Rufenden abwendet, so kündet Trakls Text von Gottesferne und Verlorenheit in einer Welt ohne Glauben und Hoffnung.

In dem einzigen Gedicht, das den Begriff „Schwester“ im Titel führt (An die Schwester)

heißt es:

Wo du gehst wird Herbst und Abend,

Blaues Wild, das unter Bäumen tönt,

Einsamer Weiher am Abend.

Leise der Flug der Vögel tönt,

Die Schwermut über deinen Augenbogen,

Dein schmales Lächeln tönt.

Gott hat deine Lider verbogen.

Sterne suchen nachts, Karfreitagskind,

Deinen Stirnenbogen.“

Die Schwester ist zum „Karfreitagskind“ geworden – vielleicht, bildlich gesprochen, vom eigenen Bruder ans Kreuz geschlagen, von Gott verlassen, was Trakl in das gewaltige und gewalttätige Bild von den verbogenen Lidern fasst.

Nur wenige Monate nach Trakls Besuch in Berlin wird er zur Armee eingezogen. Der 1. Weltkrieg holt Trakl ein, der sich seit dem 24. August 1914 als Sanitätsoffizier mit einer Innsbrucker Sanitätskolonne an der Front in Galizien aufhält. Dort nimmt er im Oktober an der Schlacht bei Grodek teil. Die kaiserlichen (österreichisch-ungarischen) Truppen sind der russischen Armee völlig unterlegen, die Schlacht wird für Trakl zum Trauma. Trakl muss, nahezu auf sich allein gestellt und nur unzureichend mit medizinischem Material ausgestattet, mehr als 90 Verwundete versorgen. Das Gemetzel und die Unmöglichkeit, die Verletzten angemessen behandeln zu können, führen dazu, dass Trakl auf dem Rückzug von Grodek einen Selbstmordversuch unternimmt, der aber von Kameraden vereitelt wird. Trakl wird in die psychiatrische Abteilung des Krakauer Garnisonskrankenhauses eingewiesen, wo ihn Ludwig von Ficker, der Freund und Förderer Trakls und Herausgeber des „Brenner“, am 25. und 26. Oktober besucht. Am 27. Oktober schickt Trakl dem wieder abgereisten Freund zwei Gedichte nach – es sind seine letzten beiden Werke mit dem Titel „Klage“ und „Grodek“.

Am 3. November 1914 bringt sich Georg Trakl mit einer Überdosis Kokain, die zu einer Herzlähmung führt, um.

In „Grodek“ poetisiert er das Gemetzel der Schlacht und führt es auf die Zeile zu: „Alle Straßen münden in schwarze Verwesung“, um dann, ein letztes Mal, die Schwester in einen Text zu holen:

Unter goldenem Gezweig der Nacht und Sternen

Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,

Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter:

Und leise tönen im Rohr die dunklen Flöten des Herbstes.

O stolzere Trauer! Ihr ehernen Altäre

Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,

Die ungebornen Enkel.“

Seinen gesamten Besitz vermacht Trakl testamentarisch seiner Schwester Grete.

Deren Ehe scheitert, Entziehungskuren bleiben ohne Erfolg. Die Flucht in eine bürgerliche Existenz ist misslungen.

Wie sie an die Pistole gekommen ist, mit der sie sich am 21.November 1917 erschießt, drei Jahre und 18 Tage nach dem Freitod ihres Bruders, ist bis heute unklar.

Literaturhinweise:

Hans-Georg Kemper/Frank Rainer Max (Hrsgb.): Georg Trakl, Werke-Entwürfe-Briefe, Stuttgart 1995

Bernd Matzkowski: Georg Trakl. Das lyrische Schaffen, Hollfeld 2011

 

 

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Heinz Niski