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Der Satz mit dem DAS sichert der Kanzlerin einen Platz in den Geschichtsbüchern. Wie die Aussöhnung mit Frankreich mit Adenauer verbunden ist, die Öffnung zum Osten hin mit Willy Brandt, der NATO-Doppelbeschluss mit Helmut Schmidt, die Wiedervereinigung mit Helmut Kohl und die Agenda 2010 mit Gerhard Schröder, wird dieser Satz, gesprochen im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik, mit Angela Merkel verbunden bleiben. Es wird wahrscheinlich DER Satz ihrer Kanzlerschaft sein!
Ein positiver Satz, ein guter Satz, ein menschlicher Satz – vielleicht der erste und einzige Satz dieser ansonsten eher drögen und scheinbar leidenschaftslosen Kanzlerin, der Bestand haben wird. Im Guten wie im Schlechten!

Jedenfalls wenn man ihn nicht als leichtfertig hingeworfene Anmerkung zu einem Problem sieht, dessen Dimensionen wohl nicht klar waren, als der Satz gesprochen wurde. Und wenn man mit dem DAS zugleich das WIR klärt.
Fangen wir mal mit dem DAS an:
Ist mit dem DAS die leidlich geordnete Aufnahme von Flüchtlingen gemeint, dann ist das zu schaffen. Dann muss eine Gesellschaft wie die unsere in der Lage sein, im Jahre 2015 eine Million Flüchtlinge aufzunehmen – stellt man einmal in Rechnung, dass in weniger reichen und geordneten Staaten teilweise weitaus mehr Flüchtlinge leben – so etwa in der Türkei rund 1, 6 Millionen, im armen Pakistan 1, 5 Millionen, im in Teilen verwüsteten Libanon 1,2 Millionen.
Bedeutet das DAS aber, dass wir den bei uns ankommenden Menschen mehr geben als Schutz vor Terror und Verfolgung, dann können einen Zweifel beschleichen. Auf die Wucht, die Schnelligkeit und die Größendimension, in der Menschen bei uns Schutz suchen, war unsere Gesellschaft nicht vorbereitet, waren ihre Institutionen, z.B. die Schulen, nicht vorbereitet.
Wie denn auch! Gelsenkirchen etwa hat in den letzten Jahren wegen zurück gehender Schülerzahlen Kapazitäten abgebaut oder zurück gebaut, Standorte geschlossen, war aber jetzt genötigt, in kürzester Zeit eine schnell wachsende Zahl junger Menschen in den Schulen unterzubringen, Kinder und Jugendliche mit höchst unterschiedlichen Eingangsvoraussetzungen – von Kindern mit guten Englischkenntnissen bis zu solchen, die überhaupt nicht lesen und schreiben können. Weit über 100 „Förderklassen“ hat die Stadt eingerichtet – und die Kapazitäten reichen nicht aus.
Geht es also darum, den hier ankommenden Menschen ein Miteinander zu bieten, eine Chance in dieser Gesellschaft eigenständig und gleichberechtigt zu leben, dann können angesichts der Zahlen Bedenken aufkommen. Damit ist nicht nur die Zahl der hier täglich Ankommenden gemeint, sondern auch die Zahl derjenigen, die jetzt bereits nicht oder nur eingeschränkt Teilhabe an unserer Gesellschaft haben.
Im Jahre 2013 hatten 1,4 Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren keine Berufsausbildung, über 6 Millionen unserer Bürgerinnen und Bürger sind Analphabeten, im Jahre 2015 bezogen im Durchschnitt 4,3 Millionen Menschen Leistungen nach ALG II und 1, 7 Millionen bezogen „Sozialgeld“ (beide Gruppen zusammen umgangssprachlich zumeist als Empfänger von Hartz-IV bezeichnet), 6 % der Schüler waren ohne schulischen Abschluss und rund eine Million Erwerbsfähige waren Langzeitarbeitslose.
Unsere Gesellschaft hat es nicht geschafft und schafft es nicht, diese Menschen zu „integrieren“ – in den Arbeitsmarkt, in das Bildungswesen, in die gesellschaftliche Entwicklung. Und sie kann und wird es nicht aus dem Stand schaffen, allen bei uns Ankommenden, die aus völlig unterschiedlichen Kulturkreisen stammen und völlig unterschiedliche Erfahrungen, Kenntnisse und Lebensgewohnheiten mitbringen, ad hoc eine gleichermaßen gute Perspektive zu bieten.
Das DAS der Kanzlerin darf also nicht als Beschreibung eines IST-Zustandes gesehen werden, wenn es nicht im Illusionären versanden soll. Wenn es ernst zu nehmen ist, dann als eine langfristige Zukunftsaufgabe, als ein Jahrhundertwerk, das größer ist als die Integration von Flüchtlingen am Ende des II. Weltkrieges oder die von rund 20 Millionen Bürgerinnen und Bürgern der DDR im Zuge der Wiedervereinigung.
Kommen wir zum WIR. Auch hier ist der Blick zu weiten! Bei der Gründung der Bundesrepublik wurde vor dem Hintergrund des II. Weltkrieges und des Holocaust das Asylrecht als ein hohes Gut im Grundgesetz verankert. Im Blick hatte man damals nicht (und konnte man wohl auch nicht haben) eine Entwicklung von Fluchtgründen und Fluchtbewegungen wie wir sie nun erleben – eine Fluchtbewegung, die den Charakter einer Völkerwanderung hat.
Das UNO-Flüchtlingshilfswerk geht von zurzeit rund 60 Millionen Menschen aus, die auf der Flucht sind – davon rund 38 Millionen sog. „Binnenflüchtlinge“, also solche, die es gar nicht erst schaffen bzw. noch nicht geschafft haben, die Grenzen ihres Landes zu überschreiten, sondern innerhalb ihres Landes auf der Flucht sind. Es bedarf keiner prophetischen Gabe um zu prognostizieren, dass die Zahl der Flüchtenden eher wachsen wird: der Zerfall von Staaten (an dem der „Westen“, vor allem die USA nicht unbeteiligt sind bzw. waren), Naturkatastrophen (vom Menschen, bedingt durch den Klimawandel, teilweise selbst provoziert), Bürgerkriege, Verteilungskämpfe (Wasser, Land, Nahrung) und Armut sind Garanten dafür, dass diese Form der modernen Völkerwanderung aus immer neuen Quellen gespeist wird.
Das WIR, soll es nicht den Status einer unsinnigen Floskel bekommen, kann also nur ein WIR der Weltgemeinschaft sein, was allerdings angesichts des Zustandes dieser Weltgemeinschaft einen schon fast naiv zu nennenden Optimismus voraussetzt.
Aber ein solcher Optimismus hat auch einen gewissen Charme!

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Heinz Niski

Da muss man tatsächlich kein Prophet sein, die einen in Deutschland werden sich in gated communities zurückziehen https://de.wikipedia.org/wiki/Gated_Community – die anderen werden schauen wie sie Selbsthilfe-Netzwerke ausbauen (Familienverbände, Ethno-Gruppen, Religions-Gemeinschaften) und Schritt für Schritt und Stück für Stück wird der Staat seine Handlungshoheit abgeben. Mehr Tafeln, mehr private Sicherheit, mehr private Versorgung der Gesundheit, des Alters etc. –
Was jetzt fehlt, wäre eine neue „Hau-Ruck-Rede“ die jeden Einzelnen in die Pflicht nehmen würde, sich mehr für die Gemeinschaft, für unsere Gesellschaft, unseren Staat zu engagieren. Stattdessen wird es Oben und Unten brutale Verteilungskämpfe geben.

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Baumschüler

Ein Kassenschlager im Bruttosozialprodukt scheint der Export von Kriegswaffen zu sein.
Ein Nebeneffekt ist der unfreiwillige Import von Überlebenden des Waffengebrauchs,
denn nur um abschreckend im Depot zu verrotten werden diese Geräte offensichtlich
nicht erworben.
Mit Rücksicht auf die Produkthaftung könnte der Staat die Gewinne von Waffenhändlern und Produzenten zur Finanzierung sozialer Mißstände einziehen, die sich
aus dem Menschenimport aufgrund von Kriegshandlungen ergeben.
Führte das möglicherweise dazu, daß es weniger Überlebende gibt, die sich
auf den Treck begeben, indem die Effektivität dieser Waffen gesteigert wird?

Ist der geneigte Bildungswürger vielleicht bereit, Aktienpakete von Kriegswaffen-
herstellern aus dem Depot zur Altersvorsorge zu entfernen?

Bleibt ganz banal die Frage, wieviel Euro, Dollar, Edelmetall oder Diamanten ist ein
Menschenleben wert.

Gestaffelt nach Etnie, Alter, Bildungsgrad, Berufsqualifikation, Gesundheitszustand, Restlebenserwartung, Bestattungskosten.

Analog zu den Pflegestufen.

Vielleicht kann da ein Versicherungsmathematiker weiterhelfen?

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Baumschüler

Meine subjektive Einschätzung ist, dass mit der Entwicklung technischer Möglichkeiten der Kannibalismus in eine subtilere Form übergegangen ist.
Ein Verzehren der Chancen des Friedens an Stelle der anderen Subjekte.

Quasi ein veganer simultaner Massenmord.

„Technische Übermenschen sind moralisch nicht einmal Menschen“ (nach Huxley).

Die Frage bleibt, wieviel Cent ist welches Menschenleben wert?

Jokerfragen: Wieviel Euro kosten 500 Gramm Moral?

Wer kellnert am Katzentisch?

Mithin dürften wir inzwischen immerhin an dem Punkt sein,
dass Keuner und Niemand mehr sagen kann, sie oder er habe
von allem nichts gewußt.

Leben ohne töten scheint nicht möglich,
dennoch ist es keine Gleichung.

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