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Verleihung der Stadtrechte

Im Industrialisierungsprozess wurden den rasch wachsenden Industriegemeinden von der preußischen Obrigkeit lange die Stadtrechte verweigert, weil diese Gemeinden angesichts der fehlenden Infrastrukturen als nicht ausreichend leistungsfähig galten, die lokalen Gesellschaften mit ihrer weit überwiegenden stark fluktuierenden Arbeiterbevölkerung als wenig stabil angesehen wurden und schließlich politische Befürchtungen über ein Erstarken von Bewegungen der Arbeiterschaft bestanden. So erschien es der preußischen Obrigkeit besser, Kommunalverwaltungen und vor allem die Polizei in den Händen der nicht gewählten, sondern eingesetzten Landräte und Amtmänner zu lassen.

Eigentlich schon riesengroß und mit den dörflichen Verwaltungsstrukturen nicht mehr steuerbar, entschloss man sich in Buer erst Ende 1906 zur Beantragung einer Erhebung zur Stadt. Im Dezember 1906 und Januar 1907 beantragten Gemeinde und Amt die Verleihung der Stadtrechte an die Gemeinde Buer. Am 4. Juni 1907 stimmte die Amtsversammlung des Amtes Buer dem Begehren der Bueraner zu – unter der Voraussetzung, dass die Existenzfähigkeit des Amtes, das nach dem Ausscheiden von Buer nur noch aus Westerholt bestehen würde, gewahrt werden sollte. Auch der Kreistag des Kreises Recklinghausen stimmte am 15. Juni 1907 zu. Der Recklinghauser Landrat sandte daraufhin den Antrag aus Buer an die nächste Instanz, den Regierungspräsidenten in Münster, und brachte bei seiner Befürwortung des Antrages einen weiteren Gesichtspunkt ins Spiel: Die Veränderung des Rechtsstatus‘ der Gemeinde böte die Gelegenheit, den jetzigen Amtmann, der bei allem Fleiß seinen Dienstobliegenheiten doch kaum nachzukommen in der Lage sei, zu pensionieren, so dass sich die neue Stadt Buer eine fähige Verwaltungsspitze wählen könnte.

Der Regierungspräsident folgte aber allen Argumentationen für die Verleihung von Stadtrechten an die Gemeinde Buer nicht, weil er Buer noch nicht für eine Stadt hielt. Entsprechend riet er dem preußischen Innenminister ab, Buer zur Stadt zu machen. So wurde der Antrag am 7. Dezember 1907 abgelehnt. Hier hatte die Obrigkeit die Möglichkeit, relativ willkürlich zu entscheiden, weil sie „städtisches Leben“ oder modern gesprochen Urbanität erkennen musste. Und die sprach man Buer ab. Nach der vorläufigen Ablehnung der Verleihung von Stadtrechten entwickelte sich Buer rasant weiter. Angesichts des Ausbaus der Schachtanlagen und der Steinkohlenförderung kam es zu verstärkter Bautätigkeit und auch die Gemeinde musste ihre Infrastrukturen erheblich erweitern: 1908 eröffnete der Schlachthof, das Krankenhaus erhielt einen Erweiterungsbau, auch das Erler Krankenhaus wurde vergrößert. Das bisherige Progymnasium wurde Vollgymnasium, die Zahl der Volksschulklassen verdoppelte sich fast, angesichts der Ausweitung von Verwaltungstätigkeiten begannen Planungen für ein repräsentatives Rathaus, Gas- und Elektrizitätsversorgung wurden ausgebaut und sollten perspektivisch kommunalisiert werden. Und schließlich begann man mit Bauplanungen, die Freiflächen um den Ortskern und zwischen den Schachtanlagen mit ihren Werkssiedlungen vorsahen. Erste Vorstellungen zum späteren Buerschen Grüngürtel waren hier schon angelegt. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen erneuerte man den Antrag auf Verleihung der Städteordnung, da nun immer mehr urbane Eigenschaften sichtbar wurden. Dabei verwies man im Nachtrag zur Begründung des am 3. Mai 1907 gestellten Antrages der Gemeinde Buer auf Verleihung der Städteordnung auf die rege Bautätigkeit und die fortentwickelte Infrastruktur: „In den Hauptstraßen sind überall erhöhte Bürgersteige aus sauberen und soliden Zementplatten hergestellt, in den Nebenstraßen befinden sich Bürgersteige mit solider Bordsteineinfassung und planierter Aschen- oder Kiessanddecke, auch ist die Straßenbeleuchtung wesentlich vermehrt worden. Die Zahl der gegenwärtig in Betrieb befindlichen Gaslaternen beträgt 577.“

Geschickter als beim letzten gescheiterten Antrag lieferte man nun eine gedruckte Denkschrift mit einer ausführlichen Argumentation, als man am 1. Februar 1910 den Antrag auf Verleihung der Stadtrechte erneuerte. Auch so manche Gefahr hatte man versucht in den Griff zu bekommen – so hieß es im genannten Nachtrag: „Ein Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke ist ins Leben gerufen. An der Gründungsversammlung nahm der Herr Regierungspräsident von Gescher teil.“ Und „Ferner ist der Bestand der vorhandenen Krankenwagen (Handkrankenwagen) um einen, den Anforderungen der Neuzeit in jeder Beziehung entsprechenden Gemeindekrankenwagen (Zweispänner) vermehrt worden.“ Weiter: „Die Feuerspritzen sind von 5 auf 7 Handfeuerspritzen des neuesten Systems vermehrt; auch sind eine neue Dampffeuerspritze und drei neue fahrbare Brandleitern beschafft worden.“

Nunmehr zielte der Antrag darauf ab, dass Buer auch kreisunabhängig werden sollte, um mit eigener Finanzhoheit den Anforderungen besser gerecht werden zu können. Wiederum unterstützte der Kreistag des Landkreises Recklinghausen den Antrag aus Buer, allerdings wieder unter der Bedingung, dass Westerholt als Amt lebensfähig bliebe, da es nicht nach Buer eingemeindet werden könnte. Erneut befürwortete der Landrat die Angelegenheit beim Regierungspräsidenten, wieder unter Hinweis auf die Möglichkeit bei einer Pensionierung des Amtmannes eine fähige neue Stadtspitze zu installieren. Dieses Mal befürwortete der Regierungspräsident den Antrag aus Buer, der Innenminister zögerte aber wegen eher polizeilicher Bedenken. Er erkundigte sich nach den in den Akten überlieferten Schreiben vom 30. Dezember 1910 nach der Stärke der radikalen Kräfte, nach den bürgerlichen Schichten und nach den polnischen und masurischen Zuwanderern:

„Euer Hochwohlgeboren ersuche ich ergebenst, sich zunächst noch darüber äußern zu wollen, in welchem Umfange im Falle der Verleihung der Städteordnung an die Gemeinde Buer das polnische und masurische Element in der Stadtverordnetenversammlung voraussichtlich vertreten sein wird, ob in Verbindung hiermit die Gefahr übermäßigen Anwachsens sozialdemokratischer oder sonstiger staatswidriger Tendenzen entsteht, und ob hieraus Bedenken gegen das Stadtwerden von Buer hergeleitet werden können. Andererseits wäre mir von Wert zu erfahren, in welchem Maße Industrie und Mittelstand bei der Zusammensetzung der drei Wählerklassen vertreten sein werden.“

Offenbar überschätzte man im fernen Berlin die Bewegungen der Arbeiterschaft im katholischen nördlichen Ruhrgebiet, und so konnte der Landrat beruhigend berichten. Nach einer ausführlichen Darstellung über die verschiedenen vor allem polnischen und masurischen Vereine und dem Hinweis auf vergebliche Bemühungen von Sozialdemokraten hieß es in der rasch vorgelegten Antwort vom 11. Januar 1911:

„Hieraus ergibt sich zu Genüge, dass die Gemeinde Buer in politischer Hinsicht einwandfrei dasteht und dass die aufrichtige Königstreue und vaterländische Gesinnung der Bevölkerung feste Wurzeln gefasst hat und durch staats- und regierungsfeindliche Bestrebungen nicht erschüttert werden wird.“ Die Bedenken des Innenministers wurden damit ausgeräumt und der Weg zur Verleihung der Stadtrechte an die Landgemeinde Buer war frei. Nach der Überlieferung unterschrieb Kaiser Wilhelm II die Stadtrechtsurkunde am 27. Februar 1911 an Bord der Kaiserlichen Yacht S.M.S. (= Seiner Majestät Schiff) Hohenzollern. Nach der Verleihung der Städteordnung an die Landgemeinde Buer durch den preußischen König und deutschen Kaiser Wilhelm II. erfolgte am 6. März 1911 die Veröffentlichung der Entscheidung im Deutschen Reichsanzeiger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger.

Am 7. März 1911 erfuhr die Bevölkerung durch die Buersche Zeitung von der Verleihung der Städteordnung. Ein Extrablatt war schon am Tag vorher erschienen. Die „Buersche Zeitung – General-Anzeiger für Buer und Umgebung“ berichtete an jenem 7. März auch über die Reaktion auf die Verleihung der Städteordnung: „Die Gemeindevertretung, welche gerade den 3. Punkt ihrer Tagesordnung verhandelte, hob die Sitzung sofort nach einem vom Vorsitzenden, Herrn Amtmann de la Chevallerie auf die neue Stadt ausgebrachten und mit großer Begeisterung aufgenommenen Hoch auf und versammelte sich gleich darauf im Hotel Sasse-Scholten zu einer Festsitzung. Die Kunde von dem freudigen Ereignis hatte sich schnell in der ‚Stadt‘ verbreitet und zahlreiche Bürger fanden sich im Festlokale ein, um mit den Vertretern der neuen Stadt das Ereignis des Tages zu feiern.“ Ob allerdings polnisch-stämmige Bergarbeiter, Katholiken, die sich des Kulturkampfs erinnerten, und gemeingefährliche Sozialdemokraten mitfeierten, ist nicht überliefert, aber auch wenig wahrscheinlich. Am 20. März 1911 wies der Regierungspräsident den Buerschen Amtmann, August de la Chevallerie, detailliert an, die Vorschriften der Städteordnung einzuführen. Ende März/Anfang April 1911 wurden von der Gemeindevertreterversammlung zentrale Vorschriften umgesetzt, am 18. April ein Ortsstatut beschlossen und auch Wahlen für eine Stadtverordnetenversammlung organisiert. Die ersten Stadtverordnetenwahlen fanden vom 10. bis 15. Juli 1911 nach dem undemokratischen preußischen Dreiklassenwahlrecht statt. Da auch juristische Personen wahlberechtigt waren, wählten in der ersten Klasse nur zwei Bergwerke ein Drittel der Stadtverordneten, zur zweiten Klasse gehörten die meisten so genannten Zechenbeamten, also das Führungspersonal der Zechen.

Von den im Juli 1911 gewählten 42 Stadtverordneten, 14 in jeder der drei Klassen, gehörten 23 der katholischen Zentrumspartei an, 14 natürlich der (nationalliberal orientierten) „Zechenpartei“ und 5 der Vereinigten Bürgerliste, nur in der dritten Abteilung hatten es einige katholische Bergleute in die Stadtvertretung geschafft. Nach Klagen wurden die ersten Stadtverordnetenwahlen im Dezember 1912 teilweise für ungültig erklärt und vom 7. bis 14. Mai 1913 fanden Neuwahlen und Ersatzwahlen für ausgeschiedene Stadtverordnete statt, die aber keine grundlegenden politischen Veränderungen brachten. Bis zum 31. Dezember 1911 blieb der frühere Amtmann als kommissarischer Bürgermeister im Amt, ihm folgte der frühere Amtsbeigeordnete Albert Ruhr, bis am 14. Februar 1912 mit Dr. Karl Russel ein neuer Erster Bürgermeister gewählt werden konnte. Bei der Wahl des neuen Bürgermeisters waren zeittypisch im überwiegend katholischen Buer die protestantischen Bewerber zunächst aussortiert worden. Erst zum 1. Februar 1912 war Buer dann nach einer einmaligen Zahlung von 100.000 Mark an Westerholt auch ein eigenständiger Stadtkreis geworden. Der Bürgermeister konnte dann auch ins neue Buersche Rathaus einziehen, das am 22. September 1912 eingeweiht wurde. Ganz so voll wie heute war das Rathaus wohl noch nicht: Als Buer zum 1. April 1911 Stadt wurde, verfügte man dort über 88 Beamte, 45 Angestellte und 40 Polizeibeamte, nachdem man 1895 erst 20 Beamte bzw. Dauerangestellte und 1905 nur 66 Beamte gehabt hatte (jeweils ohne Polizei).

Unter den Beschäftigten der Kommunalverwaltung befanden sich zudem noch eine Reihe von „Eleven“, also Lehrlingen und eher wenig qualifizierte Bürogehilfen. Bis zum Ersten Weltkrieg, als der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, blieb der neuen Stadt Buer, zumal unter den dargestellten schwierigen Bedingungen nicht viel Zeit, die kommunale Daseinsfürsorge auszubauen. Die schulische Versorgung beispielsweise blieb weiter schlecht: Bei den katholischen Volksschulen wurden 11.572 Kinder in 203 Klassen, für die 195 Klassenräume in Schulgebäuden und 13 in Schulbaracken zur Verfügung standen, unterrichtet. Das waren 57 Kinder pro Klasse. Bei den evangelischen Volksschulen waren 10.207 Kinder in 176 Klassen, für die 144 Räume in Schulgebäuden und 18 in Baracken vorhanden waren, untergebracht. Das waren etwa 58 Kinder pro Klasse.

Allen Volksschülern standen 427 Lehrer, inkl. der Rektoren zur Verfügung, was etwa 51 Kindern pro Lehrer entspricht. Damit stellte sich die Situation noch besser dar als wenige Jahre zuvor, als bis zu 90 Kinder eine Schulklasse bildeten, die Lage der Schulkinder in Buer war aber wesentlich schlechter als in anderen Großstädten. Auch die 1913 erreichte Schüler-Lehrer-Relation war völlig unzureichend angesichts der großen Anzahl von Kindern aus nicht-deutschsprachigen Familien. Und es waren knapp 22.000 Schulkinder, fast ausschließlich in der 8-jährigen Volksschule, bei gut 80.000 Einwohnern!

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Von Stefan Goch

Stefan Goch ist Jg. 1958, Sozialwissenschaftler, Dr. soc., Leiter des Instituts für Stadtgeschichte in Gelsenkirchen, apl. Prof. an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum

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