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Mittelfranken sind Fremde – in der eigenen Heimat. Sie tragen keine Lederhosen, beherrschen weder das normale, geschweige denn das Kopfstimmenjodeln, verwechseln sprachlich ständig „P“ und „B“ und „T“ mit „D“,

essen lieber gebackenen Karpfen als einen „anständigen“ Schweinsbraten mit Knödeln und haben – zumindest im Umfeld der Bezirkshauptstadt Ansbach – meist auch noch die falsche Religion: sie sind gut protestantisch. Allein schon dadurch erweisen sie sich als praktisch unintegrierbar in die Leitkultur ihres Gastlandes. An das wurden sie im März 1806 – allen guten Geistern der französischen Revolution sei’s geklagt – von Napoleon schäbig verschachert. Vorher gehörten sie zu Preußen. Also zu Bayerns Todfeinden. Das wirkt bis heute nach. Mittelfranken ist sozusagen das bayerische Kurdistan. Ich bin Mittelfranke. Daran liegt es wohl, dass ich mich allem, was mit „quer“ und „anders“ zu tun hat, sofort verbunden fühle: Querkopf, querdenken, querlegen, querfeldein, Querverbindung, querbeete Küche – andere Küche. Fremde Küche ist meine Küche. Abgesehen einmal von gebackenem Karpfen und natürlich Ansbacher Bratwürsten (die es auch nur dort und in den nächstumliegenden Dörfern gibt). Ach ja und Wild. Aber das hat wieder mit dem Querfeldein zu tun. Außerdem ist das gute deutsche Wildschwein keineswegs typisch deutsch, sondern zumindest europäisch international. Wer anderes glaubt hat noch nie einen Wildschweinbraten in der Auvergne gegessen oder bei Asterix nicht aufgepasst. Nicht in die Küche kommt mir das Hausschwein. Zu brav. Zu wenig anders. Zu angepasst, eben – zu deutsch (lässt sich in einen engen Koben sperren und fettmästen bis es einer Couchkartoffel ähnelt!). Karpfen, Wild(Schwein) und (Ansbacher) Bratwürste. Letztere stammen als querliegende Regelausnahme vom deutschen Hausschwein. Aber vom mittelfränkischen! Das ändert die Sachlage. Ansonsten liebe ich ausländische Küche. Beispielsweise französische, spanische, italienische, portugiesische. Mit der französischen ist es – wie mit so vielem anderen auch – in Gelsenkirchen schlecht bestellt. Also mach‘ ich sie selbst. Coq au vin á l’alsacienne. Lamm auf provenzalische Art. Escargots á la bourgu-ignonne. (Dazu einen 80er Mâcon, von denen manch einer mit den meist dreimal so teuren 90ern Nuits de St. Georges gut mithalten kann). Enge Freunde wissen das – zu schätzen Die spanische Küche besteht natürlich nicht nur aus Tapas, aber diese sind ein nicht unwesentlicher Teil von ihr. Auch hier ist Gelsenkirchen auf dem absteigenden Ast. Zumindest seit das „Las Tapas“ nicht mehr existiert. Arianes Tapas waren vorzüglich. Selbst die als Halbfertigprodukt eingekauften. Nirgends schmeckten die „patatas bravas“ besser, war die Aioli würziger. Und spätestens wenn José Ramirez Alvarez zu fortgeschrittener Stunden mit seinem spanischen Rum, sonstigen Schnäpsen und Likören von Tisch zu Tisch wanderte, fühlte ich mich an die Hinterhofbodegas fernab aller Touristenviertel und Straßen in Lloret de Mar erinnert.

Dort hatte ich 1983 für eine deutsche Wochenzeitung und ein Magazin meine erste Auslandsreportage geschrieben. Und dabei Tapas kennen und schätzen gelernt. In exakt solchen Buden. Heruntergekommenes verräuchertes Ambiente, schmuddelige Toiletten, der Laden voll mit Charaktertypen wie aus einer alten Bukowskistory – und eine Atmosphäre, nach der man schon auf dem Nachhauseweg Heimweh bekam. So prall und voll wie das wahre Leben. Jetzt haben sie dort das Café Madrid. Hell, freundlich, nett. Von der Art, wie es das überall gibt. Junge Leute gehen dort gerne hin. Aber keine mittelalterlichen Mittelfranken. Die brauchen was Verqueres. Einmal hab‘ ich’s immerhin probiert. Da haben sie mir die „patatas bravas“ mitsamt der Schale serviert. Seitdem vermisse ich das „Las Tapas“ doppelt. José, hörte ich neulich, soll jetzt direkt daneben irgendwas mit türkischer Pizza machen. Aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte. Portugiesisches esse ich bei Gil. Natürlich heißt sein Laden anders: „Vasco da Gama“. Benannt nach dem großen portugiesischen Seefahrer und Entdecker. Auch so einer, der lieber überall zu Hause war als nur zu Hause. Gil heißt mit Nachnahmen „da Silva“. Das klingt nach einem spanischen Granden. Aber Portugal mit Spanien auch nur zu vergleichen, verbietet sich schon aus geschichtlichen Gründen. Von der Küche her sowieso. In Portugal gibt es 365 Rezepte, um „bacalhau“, den Lieblings(stock)fisch zuzubereiten. Für jeden Tag des Jahres eines, sagt die Fama. Die Spanier kennen höchstens fünf. Und die haben sie von den Portugiesen geklaut. Übrigens viel zu spät: Wäre Columbus der extrem lange haltbare und immer etwas streng riechenden Trockenfisch (den man vor der Zubereitung am besten gleich einige Tage im Wasser schwimmen lässt) bereits bekannt gewesen, hätte er nicht zwecks Proviantsuche in Amerika an Land gemusst, sondern bis Indien durchsegeln können. Die Amerikaner wären noch heute Indianer, die Inder dafür Amerikaner und die Welt ohne McDonalds, weil die Heiligen Kühe ja nicht – oder irgendwie so ähnlich jedenfalls. Auch Gerichte machen eben Geschichte. Multikulturell und völkerverbindend. Für den „bacal-hau“ gilt das ganz besonders. Der auch als traditionelles portugiesisches Weihnachtsessen fungierende Dörrfisch stammt nämlich aus der Fremde: Heimische Seefahrer brachten ihn im 16. Jahrhundert aus Neufundland mit. Natürlich gib es bei Gil „bacalhau“. Und gegrillte „sardinhas“. Aber am liebsten sind mir die scharf gewürzten großen Mies- und die pikanten kleinen Venusmuscheln. Wenn die auf dem Tisch stehen, verschmelzen das schmuddelwettrige Ruhrgebiet und das urlaubserinnerte Südeuropa zu einem einzigen magenwohligen Gabelhappen. So muss das früher gewesen sein, als wir am neuentdeckten wärmenden Feuer in den Höhlen zusammenrückten, um uns an den ersten gebratenen Ur-Wildschweinen zu laben. Gutes Essen macht friedlich. Fulgo ist gutes Essen Hochkultur. (Irgend jemand müsste das mal den Amerikanern beibringen). Der Zusammenhang zwischen der weltweit zunehmenden Aggressionsbereitschaft und der wuchernden Verbreitung von McDonalds-Buden sei hiermit öffentlich zur Diskussion gestellt. Diplomarbeiten bitte in Kopie an den Autor. Apropos Hochkultur: Die Krönung war natürlich mein Lieblingsitaliener. War, da es ihn seit einiger Zeit leider nicht mehr gibt. Natürlich handelte es sich auch gar nicht um einen Italiener. Sondern um ein Mazedonier aus Tetevo. Genauer: um einen Albaner mit mazedonischer Staatsangehörigkeit. Wie das eben so ist, im Schmelztiegel des Ruhrgebiets. Das machte aber rein gar nichts, denn: „Die Deutschen, können das sowieso nie auseinanderhalten“, sagte Bardil immer. Er betrieb mit seiner Frau Ayse in der Essener Straße in Gelsenkirchen-Horst das „La Luce“. Ayse ist in Deutschland geboren, aber kennengelernt hat Bardil sie in seiner Geburtsstadt. Und für seine eigenen Landsleute sind beide nichts anderes als Albaner.

Kompliziert?

Es kommt noch besser. Bardil war auch gar kein gelernter Koch. Er machte 1986 bei der Mannesmann Röhrenwerke AG in Düsseldorf eine Ausbildung als Betriebsschlosser und Schweißer. Da er aber albanisch, serbokroatisch, bulgarisch und türkisch spricht, wechselte er 1993 freiberuflich ins Dolmetscherfach. Zum Kochen kam er genau wie ich: er isst gerne gut. Zico, ein Verwandter, der 12 Jahre in Top-Restaurants arbeitete und sich einen Stern erkochte, brachte ihm dann die Feinheiten bei. Mit ihm als Küchenchef hatte er auch die Trattoria „La Luce“ eröffnet. Taglierini mit schwarzen oder – im Winter – weißen Trüffeln waren Zicos Spezialgericht.

Schon bei der Zubereitung schwebte der Trüffelduft aus der Küche, machte die Nasenflügel weit und die Mundhöhle in erregter Vorfreude feucht. Wenn Zico dann mit seinem Lausbubenlächeln an den Tisch kam, in einer Hand die Trüffelreibe, in der anderen das Glas mit den eigentlich so unscheinbar aussehenden schwarzwarzigen Pilzknollen, schmolzen Männer- und Frauenherzen gleichermaßen dahin. Aber das Leben ist hart und in den meisten Amtsstuben sitzen keine Gourmets, sondern verknöcherte Paragraphenzähler – was sicher miteinander zu tun hat. Zico mußte sein ungastliches Gastland verlassen.

Statt Trüffel zählt er jetzt KFOR-Soldaten, die – sonst wären es ja keine – seine Kochkünste überhaupt nicht zu schätzen wissen, sondern ihm statt dessen sogar noch den Paß abnahmen. „Gourmets aller Länder vereinigt euch! Nieder mit der Diktatur der magenkranken Kommisköppe! Küchenfreiheit für die Zicos dieser Welt!“ (das müßte mal irgend jemand den Amerikanern sagen). Danach mutierte Bardils Leidenschaft zur Pflicht. Der „Insalate dello Chef“ mit Parmaschinken und einem vorzüglichen Rinder- oder – auf Wunsch – Lachscarpaccio trug nun den Namen zurecht. Bardil kochte gut. Bardil kochte sogar sehr gut – und das nicht nur für Gelsenkirchener Verhältnisse.

Den Rest besorgte die so herrlich undeutsche Herzlichkeit: „Wenn zu uns Gäste kommen, kommen sie zu uns nach Hause“, sagte Ayse. Und wer einmal dagewesen war, wusste, dass sie dies genau so meinte. Deshalb blieb der mazedonische Albaner auch ohne Zicos irgendwo im Kosovo verglühtem Stern mein Lieblingsitaliener. Bis Bardil meine Frau und mich eines Abends telefonisch ins „La Luce“ zum Essen einlud.

Ein Abschiedsessen, wie sich herausstellte. Sie hatten nicht so richtig Fuß fassen können, im fremden Horst. „Currywurst“, murmelte Bardil bedrückt, „hier passt eher Currywurst hin. Und Pommes rot-weiß. Vielleicht auch noch Pizza, aber keine schwarzen und weißen Trüffeln“. Und so erlosch „La Luce – das Licht“ in der Essener Straße in Horst. Zico fühlt sich übrigens, wie man hört, in in der Heimat inzwischen als Fremder. Da schließt sich der Kreis.

Mittelfranken liegt in Albanien. Oder in Mazedonien. Oder in Kurdistan. Oder in Gelsenkirchen. Mittelfranken ist einfach überall. Deshalb fühle ich mich auch überall zu Hause. Vorausgesetzt – es gibt dort eine gute anheimelnde fremde Küche.

© Werner Schlegel

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Von Werner Schlegel

Geb. 1951 in Bayern. Lebt seit 1994 in Gelsenkirchen. Gelernter Bürokaufmann. Kam zum – zunächst journalistischem - Schreiben aus Neigung (erste Artikel mit 16 für heimische Lokalzeitung). In den 80ern Redakteur für Politik bei einem Monatsmagazin und Chefredakteur eines Anzeigenblattes. In den 90ern Pressereferent einer kirchlichen Einrichtung. Heute als freier Autor und Journalist u.a. Öffentlichkeitsarbeit für eine Gewerkschaft. Schrieb und arbeitete bisher u.a. für Die Zeit, Stern, taz, 10 Jahre für das Ruhrgebiets-Magazin Marabo, ZDF und Hörfunk (z.B. WDR / SR / NDR). Zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien, von Suhrkamp bis Rowohlt. Mehrere eigene Lyrik- und Prosabände. Außerdem Sachbücher, u.a. im Suhrkamp Verlag (mit M.Rullmann). Letzte Buchpublikation 2010. Ab 1999 bundesweite Auftritte mit Solo-Kaba-Programmen: „Ich denke, also spinn‘ ich“, „Hiebe deinen Nächsten!“ und „Der ganz normale Wahnsinn – 10 Leersätze aus einem unnormalen Autorenleben“ (auch auf CD). Seit 1980 Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS). Seit 2006 Leiter der Literarischen Werkstatt der VHS (die insel) Marl. Bisher zwei Preise, für ein Kirchensachbuch (1994) und einen literarischen Essay (2002).

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