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1970 wurde ich in den Juso-Unterbezirksvorstand gewählt. Diese Wahl hatte ein Vorspiel, hatte ich doch Jochen Poß, der vor dem Kollektivvorstand (siehe unten) bereits Juso-Vorsitzender war,

einen Brief geschrieben, in dem ich mich sinngemäß über die „lahmen Juso-Enten“ in Gelsenkirchen beschwerte. Offensichtlich führte das bei Jochen und anderen zu der Überlegung, mich in den Vorstand zu wählen.

Sollte der Kleine mit der großen Klappe doch zeigen, was er drauf hatte! Mir war es recht. Überhaupt! Die Juso-Vorstandswahl von 1970 hatte ihre eigentümliche Begleitmusik, denn der bundesweite Umbruch bei den Jusos hinterließ natürlich auch in Gelsenkirchen seine Spuren.

Erfüllt von den Idealen antiautoritärer Demokratisierung, schafften wir kurzerhand die gängige Vorstandskonstruktion mit dem Vorsitzenden, seinen Stellvertretern und Beisitzern ab und kreierten den berühmtberüchtigten Kollektivvorstand, der lediglich über einen Sprecher verfügte, ansonsten aber nur gleichberechtigte Mitglieder kannte.

Mitglieder dieses siebenköpfigen historischen Gremiums waren in alphabetical order Manfred Depner, Hans Frey, Manfred Ganz, Gregor Kalender, Joachim Poß, Ulrich Stuchels und Kurt Woiwod. Zu Depner und Stuchels kann ich nichts mehr sagen, weil sie nur ganz kurz dabei waren. Gregor Kalender haben wir bereits kennen gelernt. Von Manfred Ganz, der auch nur kurz dabei war, weiß ich, dass er später als Gesamtschullehrer und als Vertreter des Lehrerverbandes VBE ab und an in Erscheinung trat, parteipolitisch aber nicht mehr im Rampenlicht stand.

Zu den Übrigen wird in der Tat noch eine Menge zu sagen sein. Die Einrichtung des Kollektivvorstandes hatte für Jochen Poß einen Schönheitsfehler. Denn mit meiner Stimme wurde nicht er, sondern Kurt Woiwod zum Sprecher benannt – was allerdings nur wenige Monate hielt. Kurt verfügte nämlich über das unbegreifliche Talent, fast genial über eine lange Zeit hinweg minutiös und taktisch geschickt ein politisches Kartenhaus aufzubauen, um es dann in Sekundenschnelle mit dem Hintern umzuwerfen (und das oft in den entscheidenden Situationen). Nach dieser Erkenntnis gehörte meine Stimme wieder Joachim Poß! Nachdem nun Jochen zufrieden gestellt war, war das Thema trotzdem nicht erledigt. Die Einrichtung des Kollektivvorstandes missfiel vor allem dem SPD-UB-Vorstand mit seinen Wortführern Werner Kuhlmann, Josef Löbbert und Heinz Urban. In den folgenden Kapiteln werde ich ausführlich darauf eingehen. In diesem Teil geht es mir darum, etwas von der unvergleichlichen Atmosphäre überzubringen, die damals bei den Jungsozialisten herrschte. Da mein ganzes Buch ganz bewusst rein subjektiv angelegt ist, versuche ich, dies (auch) über die Beschreibung persönlicher Erlebnisse zu vermitteln.

Der Aufbau der SPD

Für die, die sich in der SPD-Organisation nicht auskennen, sei bemerkt, dass der Begriff „Unterbezirk“ keine spezielle Form der Unterwürfigkeit ausdrückt, sondern eine wichtige Organisationseinheit der SPD ist. Im Schnellkurs: Ortsverein, Unterbezirk, Bezirk (jetzt in NRW: Landesbezirk), Bundesorganisation – so baut sich die SPD auf. Entsprechend bauen sich die Arbeitsgemeinschaften auf, die keine Gliederungen sind, sondern zielgruppen- oder berufsspezifisch arbeiten (Beispiel: ASF = Frauen oder Jusos = Jugend; aber: ASJ = Juristen und alle, die am Rechtswesen beteiligt sind).

Wir hatten immer den Vorteil, dass der Unterbezirk Gelsenkirchen deckungsgleich ist mit dem Stadtgebiet. Also gibt es bis heute eine klare Struktur: 27 Ortsvereine (OV) in den Ortsteilen und der Unterbezirk (UB), repräsentiert durch den UB-Parteitag, dem höchsten Organ der SPD Gelsenkirchen, und den UB-Vorstand, dem Führungsgremium der lokalen Partei. Zwischenebenen wie z. B. Stadtverbände (siehe Dortmund oder Recklinghausen) gibt es bei uns nicht. Genauso funktioniert die Jungsozialisten-Organisation in Gelsenkirchen. Auf OV-Ebene gibt es die Arbeitsgemeinschaften, auf UB-Ebene (also Stadtebene) die Juso-Delegiertenkonferenz (DK) oder auch die Juso-Vollversammlung und den Unterbezirksvorstand der Jusos.

Sorry, dass ich jetzt etwas formal werden musste.

Aber Politik ist auch und gerade Organisationspolitik (wozu übrigens ganz entscheidend die Finanzen gehören). Das ist sogar die halbe Miete, denn die Frage, ob eine Organisation funktioniert oder nicht, entscheidet nicht unmaßgeblich über die Durchschlagskraft von Politik. Das wollen heute viele nicht mehr hören oder wahrhaben, aber es stimmt trotzdem.

 

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Von Hans Frey

Hans Frey (geb. 24.12.1949 in Gelsenkirchen, verw., drei Kinder) studierte Germanistik und Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und arbeitete dann als Studienrat an einem Gelsenkirchener Gymnasium. 1980 wurde er in den Landtag von Nordrhein-Westfalen gewählt, dem er bis 2005 angehörte. Seit dieser Zeit lebt er (formal) im Ruhestand. Neben der Politik war und ist Hans Frey publizistisch und künstlerisch engagiert. U. a. kreierte er 1996 als Drehbuchautor und Regisseur die Stadtrevue „Ja, das alles und mehr…“, gab sieben Jahre lang das Stadtmagazin DIE NEUE heraus und gehörte 2004 zu den Mitinitiatoren der Kunstausstellung RUHRTOPIA in Oberhausen. Im September 2007 war er Mitbegründer von gelsenART e. V., Verein zur Förderung von Kunst und Kultur im Ruhrgebiet. Unter seinen Buchveröffentlichungen finden sich u. a. - der fantastische Roman „Die Straße der Orakel“, der in einer Antike spielt, die man so aus den Geschichtsbüchern nicht kennt (2000), - das Sachbuch „Welten voller Wunder und Schrecken – Vom Werden, Wesen und Wirken der Science Fiction“ (2003), ein umfangreiches Werk, das alle Facetten der Science Fiction beleuchtet, - und sein aktuell letztes Buch (September 2009), der erste Band seiner politischen Autobiografie „Ja, das alles und mehr! – Geschichte und Geschichten aus 35 Jahren Politik“ mit dem Titel: „Wilder Honig“.

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