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Tag 1

Die wollen nur Party machen,“ sagte mir mein Kumpel Ingo über die Kunst Peripherie Ruhrstadt (KPR). Ein Kunstprojekt mit dem Klang nach Umgehungsstraße und Trabantenstadt, macht in Wet-T-Shirt-Contest, Geltungskonsumfeier oder Karneval? Warum nicht, schließlich beginnen Gentrifizierungen verödeter Bezirke in der Regel mit Insider-Partys,

statt durch übergestülpte Reißbrett-Konzepte. Ich beschließe einen Selbstversuch und nehme mir vor, alle Veranstaltungen der KPR vom 23. September bis zum 01. Oktober 2011 in Gelsenkirchen zu besuchen. Ich muss herausfinden, ob hippe Strategen der kreativen Klasse subversiv Hand in Hand mit Investmenthaien & verzockten Heuschrecken, mir vertraut gewordene Leerstand-Ödnis vermarkten wollen.

Die Nacht vorher schlafe ich schlecht und träume von einer Krähe, die immer wieder den Körper einer am Boden liegenden bunten Taube mit ihrem Schnabel durchbohrt, während eine Taube in Weiß schützend und tröstend eine Schwinge um die Sterbende legt. Beim durchspießen der Augen bleibt die Krähe mit ihrem Schnabel im Boden stecken.

Ort des Geschehens: der Treffpunkt der KPR Künstler im Hinterhof der von Oven Straße am nächsten Tag.

Wie soll ich mich einstellen auf zu erwartende bleich-ätherische Andy Warhol Gaukler-Typen, robust-wagemutige Ai-Weiweis, Blaumännner-Scharlatane, charismatisch-schrille Musen? Werden Chimären und amoralische Künstlerwesen mich bezirzen, verzaubern oder mir Sand in die Augen streuen, mir gar die Rolle des fassungslosen kleinen Mannes von der Straße zwangsüberstülpen?

Ich erhoffe Einblicke in eine mir unbekannte Ruhrgebiets Szene. Die Idee, mich in Galerie-Konzepte, Theorien der Kunstöffentlichkeit des 21ten Jahrhunderts, Unterscheidungsmerkmale von Kunstwerken und Kunststücken einzuarbeiten, lasse ich fallen. Kunst ist der Wahrheit eh nicht verpflichtet und freundliche Neugier scheint mir als Handwerkszeug angemessener als mit Halbwissen bestückte Scheuklappen auf meiner Reise ins Unbekannt.

Gelsenkirchen Altstadt, von Oven Straße 10, Hinterhof, Freitag, den 23.09.2011

14:45

Kein Blut, keine Federn, Tauben oder Krähen vor dem Eingang der KPR. Ich bin beruhigt.


15:00

Laternenmasten auf der Bahnhofstraße werden mit Plakatsandwichen eingekleidet. Künstler malen, zeichnen, sprühen. Passanten stutzen, fragen, schauen verhalten. Flyer wechseln die Besitzer. Mancher Kunst-Aktivist bemerkt, dass das Pflaster in GE ein hartes ist.

Muddy Echoes, eine Rocktruppe, die sich geisteskrank wähnt, bespaßt in einer Ecke unplugged verirrte Passanten. Ich warte, dass die Truppe als Marching Band über die Einkaufsstraße zieht, links und rechts, vorne und hinten begleitet von Flyer-Verteilern, Bilder-Schwenkern und Megaphon-Wahrheitskündern.

Nichts passiert. Man bleibt energiesparend Standort treu und pflegt Öffentlichkeitsminimalismus.


15:30 Neumarkt 1

Geschützt vor Belästigungen durch das Ordnungsamt (Haben Sie eine Lizenz?) zupft mich Mario Storks Gitarrenspiel im Eingang des „Damenmoden Leerstands“ in die erste Galerie. Fantasie, Graffiti und Tatoos versprechen sich hier, bewacht von einem plüschigem Kuschelknuddeldrachen im Schaufenster aus Elke Brandts Manufaktur. Sie und Maik Schmidt entwerfen lederbehoste, martialische Damen und Herren, mit und ohne Fledermausohren, die Drachen reiten oder töten, Busen oder abgeschlagene Köpfe recken. Die beiden sind Stars der Fantasie-Szene und wie es sich für Propheten gehört, in der eigenen Stadt unbeschriebene Blätter. Neben Malerei, Buchillustrationen, Airbrush, steht auch Bodypainting auf ihrem Programm. Bemerkenswert, dass beide unabhängig von einander am selben Bild arbeiten können.

Beni Veltum, der wohl bekannteste Sprayer Gelsenkirchens, zeigt legale Arbeiten.

Nach anonymen, illegalen zu fragen, wäre ein Paradoxon. So bleibt mir verschlossen, ob es in der Stadt Beni-Graffiti-Kidnapping gibt und ich keine scharfsinnig-witzigen Fassaden-Fanale finde, weil Kunstkenner sie immer wieder samt Putz von der Wand klopfen. Wie auch immer, eine e-mail wie Banksy sie bekam, wäre ihm zu wünschen:  „Wir fordern dich auf, deine Sachen nicht mehr da zu malen, wo wir leben, jedenfalls nicht hier in Bismarck, Hüllen, Erle oder Ückendorf. Neuerdings ziehen hier lauter Yuppies und Studenten her, und deine Graffiti sind der Grund, warum sie diese Gegend cool finden. Wir können uns das nicht mehr leisten. Du treibst die Mieten in die Höhe. Tu uns allen einen Gefallen und mache das woanders, zum Beispiel in Buer, Essen oder Dortmund.“

 

Maik Förster, Spraykünstler und Tätowierer, nadelt im oberen Stockwerk Kunst in die Haut Freiwilliger. Ich verpasse seine Aktion, darf aber später ein frisch-farbig gestochenes Oberarm-Branding auf David Kumpernass, einem der KPR Macher bewundern. Lebendige, bewegliche Bildträger, die im schmerzhaften Entstehungsprozess Anleihen von Body-Art haben, als Geste gegen durch Marktmechanismen abgeschottete Galerien und Museen? Bei entsprechender Bekleidung frei zugängliche, dem Angebot- und Nachfragespiel entzogene unverkäufliche Kunst als Protestnote? Hautgewordene Common Lizenz und Open Source Idee? Einen Bezug zum Ausstellungsthema „Leerstand“ entdecke ich in dieser Galerie nicht.


16:00 Am Rundhöfchen 6

Ein Imperativ steht im Raum:

FINDE DEN SCHWARZEN ELEFANTEN! Ich frage die Grafikdesignerin Melina di Febo, ob ich Nachts bessere Chancen hätte. „Möglich“ sagt sie und erklärt mir Fotoarbeiten des Konzert Fotografen Lars Schroer, Kinderbuch Illustrationen von Eva Künzel und ihre eigenen, durch Parabeln, wie die vom Fuchs und Hasen, inspirierte Arbeiten. Die 5 Künstler haben sich über ihr Studium an der Ruhrakademie Schwerte kennen gelernt und zeigen gediegenes, fein bearbeitetes in Mischtechniken. Als Kinder der Mediengeneration wollen sie zuerst einmal Freude verbreiten und konfrontatives eher verschlüsselt andeuten, wie z.B. in einem Kinderbuch über Afrika. Einen Bezug zum Ausstellungsthema „Leerstand“ entdecke ich in dieser Galerie nicht.

17:00 Im Ex-Friseurladen „Inbetween“ von Oven Straße 7

Der erfahrene Künstler Helmut Warnke gibt sich gerne nachdenklich. Sein philosophisches Hauptthema ist der biologistisch determinierte Mensch.

Früher kombinierte er verschiedene gefundene Natur-Materialien zu Collagen, bestückte phallische Kiesel mit rätselhaften Kreuzen, Dreiecken und Zahlenkombinationen. Seit einiger Zeit arbeitet er ätherischer mit Fotoapparat und Bildbearbeitungsprogramm. In harmonisch gefällige Naturabbildungen wie z.B. Baumrindenvulven, fügt er Portraitaufnahmen ein, vielleicht als Hinweis auf die Brüchigkeit der kulturellen Prägung des Menschens?

Heute zeigt er Portraits und wolkiges, Rückansichten als entspannt und unaufgeregte poetische Arbeiten.

 

Die 20jährige Klara Wardetzki liefert hier ihre erste Ausstellung ab und zeigt vor allem beeindruckende handwerkliche Proben ihres zeichnerischen Könnens. Cyborg und Manga-Affines ist ebenso zu sehen, wie naturalistisches. Ihr Thema ist die menschliche Haltung und Bewegung als Ausdruck innerer Spannungen und Gefühle. Man darf ganz sicher auf weitere, intimere Arbeiten von ihr hoffen. Einfühlsam streuen beide Künstler hier und da Hinweise auf die Broken Window Theorie ein und setzen so ein Fanal gegen Verödung und Verslummung. Demonstrativ legen sie hinter ungeputze Scheiben ihre Bilder in den Staub der Auslage. Hier werden weder Leerstands-Narben noch Risse durch dekoratives Getüchel übertüncht. Die Galerie als Objet trouvé, als Reziprokes-Ready-Made. Ein Bezug zum Ausstellungsthema „Leerstand“ ist durch die Art der Präsentation gegeben.

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Von Heinz Niski

Handwerker, nach 47 Jahren lohnabhängiger Arbeit nun Rentner. Meine Helden: Buster Keaton, Harpo Marx, Leonard Zelig.

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