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Georg Heym – eine Vision vom Untergang 

  Georg Heym, Der Gott der Stadt (1910)

Auf einem Häuserblocke sitzt er breit. Die Winde lagern schwarz um seine Stirn. Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit Die letzten Häuser in das Land verirrn. Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal, Die großen Städte knien um ihn her. Der Kirchenglocken ungeheure Zahl Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer. Wie Korybanten – Tanz dröhnt die Musik Der Millionen durch die Straßen laut. Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut. Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen. Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt. Die Stürme flattern, die wie Geier schauen Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt. Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust. Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust Und frisst sie auf, bis spät der Morgen tagt. Georg Heym (1887-1912) hat eine ganze Reihe von Stadtgedichten verfasst, dessen wohl bekanntestes das Gedicht „Der Gott der Stadt“ ist. In den fünf jambischen Vierzeilern dynamisiert Heym das Geschehen von der ersten Strophe, die den Gott Baal einführt, bis zur fünften Strophe, die eine apokalyptische Vision vom Untergang schildert. Heym verschränkt hier die moderne Großstadt und Elemente christlicher Gottesdienste mit dem Bild des Gottes Baal aus vorchristlicher Zeit (Baal steht im Hebräischen für Herr und war der Begriff für Gott bei den westsemitischen Völkern; Baal war eine Gottheit phönikischer Städte, dem auch Menschenopfer dargebracht wurden). In der ersten Strophe wird Baal eingeführt, der durch seine Beschreibung als mächtig, zornig, gewalttätig erscheint. In der zweiten Strophe sehen wir die Städte in einer typischen Haltung der katholischen Liturgie: die Städte knien um Baal. In der dritten Strophe vergleicht der Sprecher den Lärm der Großstadt mit dem Tanz der Baal-Priester (Korybanten) und den aus den Schloten aufziehenden Qualm mit Weihrauch. Die vierten Strophe ist durch Steigerungselemente und Dynamisierung gekennzeichnet: aus dem „Abend“ (2. Strophe) wird nun die „Nacht“, aus den „Winden“ (1. Strophe) werden nun „Stürme“, und die Wut Baals, auf die die dritte Zeile der ersten Strophe hinweist, wird zum Zorn gesteigert, der sich dann in der letzten Strophe im Akt der Aggression entlädt: Baal schüttelt seine „Fleischerfaust“, ein Meer von Feuer jagt durch eine Straße, die Glut „frißt“ sie auf. Der Blick auf die Stadt in diesem Gedicht Heyms weist zwei Besonderheiten auf: In Phönizien war Baal eine Stadtgottheit, jede Stadt hat ihren eigenen Stadtgott. Nun aber wird Baal zum Gott der Stadt schlechthin, zum Gott aller Metropolen. Denn Heym verzichtet auf jedes Element, das seine Stadt besonders markieren würde (wir haben kein topographisches Element, keinen Platz, keine Sehenswürdigkeit, anhand derer sich eine bestimmte Stadt identifizieren ließe. Heym verallgemeinert also – er zeigt Elemente der Großstadt überhaupt: Menschenmassen, Fabrikschlote, Lärm („Musik der Millionen“), den Flächenfraß der Städte – das Ausufern der Großstädte in die ländliche Umgebung (siehe 1. Strophe, 3. und 4. Zeile). Und er zeigt eine dunkle Vision des Untergangs, ein apokalyptisches Horrorbild, das weit entfernt ist von Zukunftsoptimismus und Begeisterung über die Entwicklung der Metropolen, sondern ganz im Gegenteil eine düsteren Blick auf die Städte wirft. Diese düstere Vision findet sprachlich u. a. ihren Ausdruck in der Dominanz der Farben ROT und SCHWARZ, die entweder als Farbadjektiv direkt auftauchen oder als Konnotationen (z. B. bei den Lexemen Feuer, Glut und Qualm) aufgerufen werden und durch das „blau“ (als Neologismus im Verb „blaut“ enthalten – 3. Strophe) nur punktuell ein Gegengewicht erhalten. Heyms Gedicht als Vision einer Katastrophe kann – über den eigentlichen Gegenstand, die Stadt, hinaus – auch als Vision eines kommenden Untergangs verstanden werden, wie er dann 1914 tatsächlich beginnen wird. Somit ist das Gedicht auch Ausdruck eines Krisenbewusstseins, wie es in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts verstärkt aufkam.

 

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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