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Jürgen Kramer hat 1986 ein Bild gemalt, Titel: „Einladung zum Freitod;“ es ist dort abgebildet eine fast durchsichtige weiße Figur als Seele, die nach links die Treppe hinunter geht, mit einem Bein ins Leere tritt und die Stufen der Treppe verlässt.

Dahinter steht eine Idee von Freitod, die gar nichts zu tun hat mit Selbstmord, wie vielen der Betrachter womöglich bei solchen Bildern immer wieder bei Jürgen geschwant haben mag, sondern dahinter steckt eine Idee von Freitod, die etwas zu tun hatte mit der Freiheit, sich stetig mit dem Tod existentiell auseinanderzusetzen bis zum äußersten – in Freiheit, das heißt: den Tod nicht nur so über sich kommen lassen zu wollen wie ein Geschick.

Jürgen Kramer war derjenige, der den Tod ununterbrochen versucht hat zu ergreifen, der sich auf ihn eingelassen hat, so, daß es fast unvergleichbar ist. Das ununterbrochene Sich Befassen mit dem Tod, sogar damit zu experimentieren, ja, zu spielen – dahinter steckte eine Freiheit, bzw. der Kampf um die Freiheit, sich des Todes zu bemächtigen, und zwar des Todes als der einzigen Garantie der Möglichkeit zur Wahrheit.

Jürgen Kramer war einer, der immer am Rand des Abgrundes die Frage nach der Wahrheit gestellt hat, und dafür war ihm der Tod das Mittel. Sein erster Anstoß in seiner Jugend war Samuel Beckett, und zwar, was ihn am meisten fasziniert hat, dessen Kampf mit der Sprache in Richtung Schweigen. Kramer hat das später einmal existentielle Rigorosität genannt. Die war bei ihm der Anstoß für alles andere. Samuel Beckett hat ihm den Stoß versetzt, der fortan sein Leben bestimmt hat und der ihn dann bald – wie er bekundet hat – zu Joseph Beuys geführt hat. 1969 hat Kramer gemeinsam mit Felix Droese angefangen bei Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie zu studieren, in dieser Zeit habe ich ihn kennengelernt. Meisterschüler wurde er 1974.

Wenn man die Arbeit dieser frühen Jahre zusammenfassen will, dann war es der Drang nach vorne, die permanente Konfrontation des künstlerischen Willens mit der Realität. Jürgen Kramer hatte den ganz eigenen Drang in die Realität hinein, die Bestimmung zur Aktion. Die ununterbrochene Folge der Fragen, die alles Gegebene durchlöcherten, durchkreuzten. Die Lust an der Paradoxie, der Umkippung. Deren Ursprung war eine andere Realität, die er buchstäblich in die Realität hineinzudrücken sich verpflichtet hatte.

Immer waren seine Maßnahmen überraschend, irritierend, wenn nicht befremdlich, immer aber zwingend. Es war der Drang, etwas in die Realität hineinzudrücken, nach vorne, gegen die Norm, und immer mit dem Anspruch der absoluten Wahrheit, die für ihn aber nie – außer eben der Tod – letzte Gewißheit war. Immer aufs Neue und immer aus dem Widerspruch, sogar gegen sie selbst, musste sie hervorgebracht werden.

Jürgen Kramer zu Ehren möchte ich aus Samuel Becketts „Warten auf Godot“ zitieren:

  • Pozzo: „Hören Sie endlich auf, mich mit Ihrer verdammten Zeit verrückt zu machen? Es ist unerhört! Wann! Wann! Eines Tages, genügt Ihnen das nicht? Irgendeines Tages ist er stumm geworden, eines Tages bin ich blind geworden, eines Tages werden wir taub, eines Tages wurden wir geboren, eines Tages sterben wir, am selben Tag, im selben Augenblick, genügt Ihnen das nicht? – Sie gebären rittlings über dem Grabe, der Tag erglänzt einen Augenblick und dann von neuem die Nacht.“ Und in der Szene danach kommt Wladimir zu Wort: „Rittlings über dem Grabe und eine schwere Geburt. Aus der Tiefe der Grube legt der Totengräber träumerisch die Zangen an. Man hat Zeit genug, um alt zu werden. Die Luft ist voll von unseren Schreien, aber die Gewohnheit ist eine mächtige Sordine.“

(Sordine ist ein Dämpfer für Musikinstrumente) – „aber die Gewohnheit ist eine mächtige Sordine“ – – ich kenne kaum einen Menschen, der dermaßen ununterbrochen gegen die Gewohnheit gearbeitet hat – an sich selbst – immer gegen die Gewohnheit, damit sich bloß nichts einpendelt und es immer wieder von neuem anfangen muss – und alles getrieben bis zum äußersten.

Jürgen Kramer hat kontinuierlich, ja bis zuletzt Gräber gemalt, durch all die Jahre bis zum letzten – das letzte Grab ist auf seinem letzten Heft „Grab 2“ 2011, auf dem Deckel abgebildet, also noch in diesem Jahr gemalt. Und wenn man ganz genau hinschaut, über dem Grab mit der Schaufel links in dem Erdhaufen, dann sieht man da weiße, ganz leichte weiße Flügel. Kramer hat ununterbrochen Gräber gemalt, bezeichnenderweise auch ununterbrochen Engel. Und diese zwei Aspekte, das Grab und der Engel – das gehörte bei ihm zusammen – in diesen Jahrzehnten ununterbrochener Arbeit immer am Rande des Grabes, unmittelbar am Abgrund.

Kramer war ein Meister des Nihilismus und zwar des Nihilismus, den er ausgereizt, ausgestochen hat mit dessen eigenen Mitteln – homöopathisch mit der ganzen eigenen Existenz. In dem Nichts steckte das Ich. Aber wenn schon der Tod das letzte Wort, so gilt über dieses letzte Wort ( und damit die Absage an alles „Gerede“ (Heidegger)) hinaus noch ein Einziges: die Kunst. Kramer hatte nie den geringsten Zweifel, dass es – wenn – nur eine einzige Rettung gibt, die Kunst – „art returns“ – die Kunst kommt zurück – (hier kann man am Ende vielleicht hinzufügen: kommt zurück aus der Antikunst).

Kramer, auf der Erde heimatlos, hatte seine einzige Heimat in der Kunst – – – – geboren in GE Schalke. Es gibt ein Bild von ihm aus dem Jahre 1982, das ist ein kleines Bild, ein schwarzer Kreis, der fast das ganze Bild erfüllt, das Bild hat den Titel „Schwer“ – es ist fast ein schwarzes Loch, und mich hat das immer an Gelsenkirchen erinnert (Kramer übrigens war für mich der eigentliche Anlass, nach Gelsenkirchen zu kommen – nicht nur heute). Gelsenkirchen, die Mitte des Potts, das Schwarze Loch. Kramer hatte in seinem Denken, in seiner Arbeit immer den Hang, sich hineinzubohren, unterirdisch bis in die tiefste Sohlen hinein in die Erde, nicht nur das Grab zu bohren, und das Ganze hatte immer auch etwas mit Gelsenkirchen zu tun. Substantiell.

GE war für ihn eine Heimat, aber als Bild. Gelsenkirchen, in die Tiefen hinein überall unterhöhlt. Die Bergarbeiter-Idee. Ewigkeitslasten. Ich kenne keinen, der sich so tief auf diese Stadt, auf das Bild dieser Stadt eingelassen hat, auf das Elend der Arbeiterstadt, die ihre Blüte längst hinter sich hatte, auf die knochennüchterne Idee der Arbeit, nichts als die Tatsache des Arbeitens, des In Sich Hineinbohrens in die Erde bis in die siebte Sohle. Die Erde der Kopf! Joseph Beuys sagte einmal zu mir: „Wenn der Jürgen denkt, dann hört man das Gehirn knirschen!“ Die Erde, das ist der Kopf. Das Sich Hineinbohren in die Erde, das Hineinbohren in den Kopf, um unter allen Umständen da durchzukommen, durch das Gehirn hindurch zu kommen .. mit Hilfe des Denkens. Der Heimatlose findet seine Heimat im Bild? In der Kunst.

Jürgen Kramer war nicht nur Maler, sondern er war ein Diener der Kunst, was ein Unterschied ist. Vielleicht sollte ich sagen: er war eine Magd der Kunst. Das ist sehr selten. Er war nicht nur Maler, er war nicht nur Künstler, sondern er hat der Kunst gedient, kontinuierlich – treu – und dabei voll Adel – ohne Zugeständnis an irgendwelche Umwelt, geschweige an das System. Und durch das System hindurch, in den Grenzzonen, ist er auf Grund seiner latenten Berührung mit dem Tod unweigerlich irgendwann auch den Zombies und Untoten und all diesen Wesen begegnet … mit denen er sich auseinandergesetzt hat in einer Form, wie man es sich kaum vorstellen kann – und die Bilder zeugen davon … und immer wieder – eingestürzt und immer wieder .. abgestürzt – aber diese Abstürze bei Jürgen Kramer, das war nie ein Unfall, es war immer ein Experiment. Risiko in vollem Bewusstsein. Kramer hat sich immer willentlich bis an den Rand herangearbeitet. Und wenn er abgestürzt ist, dann war das ein Punkt in der Versuchsreihe, aus dem er sich, gezeichnet, dann wieder herausgeschlagen hat mit seiner Methode des Zickzack, von einem Extrem ins andere. Man konnte sich nie sicher sein, was er als nächstes unternimmt, wie bei einem Hasen, der Haken schlägt. Ungeschützt – immer kurz vor dem Abschuss. Es gibt zwei Bilder von ihm das eine von 1971, das andere von 1973, mit dem Titel „unerschütterlich“ und „unerbittlich“ – eigentlich Selbstportraits. Ihre Kennzeichen: eine rätselhafte Reinheit – in dieser habe ich ihn immer erlebt, und es gibt kaum ein Wort, was diese merkwürdige Transparenz bei ihm besser zum Ausdruck bringt als der von ihm selbst gewählte Ausdruck der Zweitseele.

Kramer war immer doppelbödig.

Er stand vor einem, konfrontierte einen und versuchte immer wieder nachzuhaken, konfrontierte, spielte – aber das mit einer Hintergründigkeit und vor allem Humor. Mit dem Humor, ohne den diese fortdauernde Auseinandersetzung mit dem Tod nicht möglich ist. Das war ein Humor, der hatte zu tun mit Nähe und Distanz zugleich, mit etwas völlig Überpersönlichem. Kramer hat uns immer in Atem gehalten. Aber er hat uns nie behelligt. Etwas ganz Seltenes, Kostbares. Ständig einen in Atem halten mit seinen Gedanken, mit seiner Arbeit, mit seinen Experimenten, und doch einen nie behelligen: die Nähe des Engels kraft des Abstands zu sich selbst! Wenn man ihm begegnete, kam einem eine Heiterkeit entgegen, bei der man sich fragen konnte, wo kommt die nur her? Und das merkwürdige war: er war nie ironisch. Er war vor allem auch nie zynisch. Er war nie kalt. Es war immer eine Wärme mit ihm – – fast könnte man sagen: durch den Tod hindurch, über ihn hinaus – eine Transzendenz, die etwas Substantielles herüber brachte.

Wenn denn also der Tod das letzte Wort ist, war Kramer jemand, der über das letzte Wort hinaus auf etwas gestoßen ist, jedenfalls auf etwas, was durch ein Wort gar nicht zum Ausdruck zu bringen ist. Und es gibt diesen wunderbaren Brief – Kramer hatte den damals in der Kunstakademie an einige Leute geschickt mit der Frage: „werde ich sterben?“

Einer der Adressaten war Joseph Beuys und er schrieb auch zurück:

Da gibt es einen Brief an Josef Beuys, GE am 24.2.70 JK: „GE, am 24.2.70 – – -Lieber Herr Prof. Beuys! Werde ich sterben? Jürgen Kramer.“

Beuys hat dann unter das „ich“ einen Strich gemacht und mit einer vertikalen, gestrichelten Linie nach unten auf ein noch einmal hat auch darunter einen Strich gezogen und hat dann noch mal „ich“ (unterstrichen) hingeschrieben und hinzugefügt: „ich wird nicht sterben aber der Körper den das Ich sich gewählt hat der wird sterben.“

Und darunter hat er dann noch in einem kleinen Abschnitt geschrieben: „Ich danke dir für deinen schönen Brief, wir müssen eingehend darüber sprechen. Dieser Satz („dein Ich wird nicht sterben“) ist natürlich zu wenig.“ – und jetzt kommt ein ganz wichtiger Satz und der zeigt, wie tief Beuys mit Kramer immer verbunden war – : „Du weißt das alles und lebst schon längst nach dieser Wahrheit. Herzlichst dein Joseph Beuys.“

Meldung von Jürgen Kramer Tod

Werner Schlegels Nachruf

Klaus Teschings Nachruf

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