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„Der Städtebau ist stets der Vollzugsbeamte der Epochenstimmung.“ (WOLF JOBST SIEDLER)

Die Gebäude einer Stadt, zumal die repräsentativen, sind, hier ist Wolf Jobst Siedler sicher zuzustimmen, jenseits ihrer funktionalen Bestimmung immer Ausdruck einer Epoche, eines Baustils und einer Ideologie, die diese Epoche bestimmt.

Sie sind aber doch zugleich weitaus mehr, denn sie sind verknüpft mit vieltausendfachen persönlichen Erinnerungen, mit dem Blick jedes Einzelnen auf diese Gebäude. Zwei solche persönlichen Blicke sollen hier geschildert werden.

Meine Erinnerungen an den alten Gelsenkirchener Hauptbahnhof sind mit meiner frühesten Jugend verknüpft. Einmal in der Woche, zumeist am Donnerstag, fuhren meine Mutter und ich (ich war Grundschüler, dann Gymnasiast der Sexta und Quinta des Grillo-Gymnasiums) mit der Bahn nach Herne, um die dort lebende Verwandtschaft (Omas, Opas, Tanten und Onkel und deren Kinder) zu besuchen.

Der Weg zum Bahnhof verlief stets gleich. Von der Dresdener Straße aus, wo wir wohnten, machten wir uns zu Fuß auf den Weg. Unterwegs, an einem Kiosk, den es schon lange nicht mehr gibt, durfte ich mir im wöchentlichen Wechsel das neuste Micky-Maus-Heft oder die neue Ausgabe von Fix und Foxi kaufen – als Lektüre für die Bahnfahrt. Die Bahn trat einem damals noch nicht in Gestalt von seelenlosen Automaten gegenüber, sondern in Gestalt von lebendigen Menschen. Am Kartenschalter kaufte man bei einem Bahnbeamten die Karten, und dann ging es zur Kartenkontrolle.

In der Kanzel, die man passieren musste, um die Bahnsteige betreten zu können, saß häufig derselbe Bahnbeamte, der ganz offensichtlich ein aufmerksamer Menschenbeobachter war, denn alsbald hatte er bemerkt, dass der kleine Bub, der immer donnerstags am frühen Nachmittag mit seiner Mutter seine Kanzel passierte, ein Comic-Heftchen dabei hatte.

Und eines Tages sagte er zu mir: „Hast du wieder ein neues Heft?“ „Ja“ antwortete ich. „Darf ich mal sehen?“ Ich reichte ihm mein Heft, das er dann durchblätterte und mir schließlich mit einem „Gute Reise“ und „Viel Spaß beim Lesen“ zurückgab. Das wurde im Laufe der Zeit zu einem Ritual – wie der Weg zum Bahnhof selbst und das Kaufen des Heftes. Ja, es war sogar fast enttäuschend, wenn einmal ein anderer Schalterbeamter in der Kanzel saß und nicht nach meinem Heft fragte.

Irgendwann kam die Zeit der Jojos. Ich hatte auch so ein Ding, ohne es allerdings im Umgang damit zur Meisterschaft zu bringen. Aber immerhin schaffte ich es, das Spielgerät für einige Zeit im „Leerlauf“ über dem Boden zu halten. So ging ich nun eines Tages zur Kanzel, rollte das Jojo in den Leerlauf und ließ es schnurren.

Der Kanzelmann fragte: „Was hast du denn da an der Leine?“ „Meinen Hund“, gab ich zurück. „Hm, hm. Für den musst du aber eigentlich auch eine Karte lösen.“

„Oh!“

„Na ja“, sagte er, „dann geh mal durch mit deinem Hund.

Eine Freifahrt. Ich darf ja auch immer kostenlos deine Hefte lesen.“ Für den Bahnhof selbst, die großartige Halle mit dem riesigen Glasfenster, hatte ich damals eigentlich gar keinen Blick – vielleicht verständlich für einen Jungen in meinem Alter. Der Bahnhof war für mich dieser nette Mann, der da uniformiert in seiner Kanzel saß und die ganze Woche nur darauf zu warten schien, dass ich endlich mit einem neuen Comic vorbei kam, den ich für kurze Zeit mit ihm teilte und den er sichtlich erfreut durchblätterte.

Und der meinem Hund einmal eine Freifahrt gewährte. Im Häuserensemble gegenüber dem Bahnhof gab es das Regina-Theater – ebenfalls ein Ort persönlicher Erinnerungen.

Immer am Samstag gab es dort eine trailer-show. Und eine Zeit lang war es für zahlreiche (natürlich schon etwas ältere Schüler) ein „Muss“, nach der Schule dorthin zu streben. Um 11.30 war Schulschluss – und dann ging es ab ins „Regina“. Am hellichten Mittag tauchte man also in das Dunkel des großen Kinosaales ein, in dem zeitweilig ein Höllenlärm herrschte. Nicht nur durch das ständige Kommen und Gehen neuer Schülergruppen, durch Gequatsche und Zwischenrufe, sondern auch durch die Filme selbst.

Es war die hohe Zeit der Kung-Fu-Filme, in denen martialische Kämpfer ihre wüsten Aktionen durch markige Schreie untermalten, und der frühen „Italo-Western“. Und wie das bei allen Filmen so ist, bieten die Trailer „Höhepunkte“ an – hier also Höhepunkte des „Draufhauens“ und des „Geschreis“.

Und diese Aktionen wurden wiederum von den Kommentaren der versammelten Schülerschaft lauthals verstärkt. Wenn man nach einem „Durchlauf“ noch nicht die Nase (besser: das Ohr) voll hatte von dem Lärm, dann blieb man eben für eine zweite, dritte oder gar vierte dritte Runde und kam zu einer „interaktiven“ Kinovorstellung ganz besonderer Art.

Auch meine Erinnerungen an das „Regina“ sind also eher „atmosphärischer“ Natur, weniger architektonischer Art. Mit der Modernisierung der Innenstadt sind diese beiden Gebäude und das gesamte Ensemble verschwunden.

Viele Menschen, so auch ich, empfinden das Verschwinden dieser Gebäude heute als Verlust historischer Bauten, die gesichtsloser Zweckarchitektur Platz machen mussten.

Aber es ist eben mehr als ein Verlust von Architektur. Es ist auch ein Verlust von in Stein gefassten Erinnerungsorten.{jcomments on}

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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