„Befreiung“ nennt der Holzbildhauer Leif-Erik Voss seine Baumskulptur, die er für das „Kunst am Baum“-Projekt des Gelsenkirchener Kunstvereins geschaffen hat.
Dieser außergewöhnliche Skulpturenpark besteht seit 1993 und befindet sich in den Berger Parkanlagen an der Adenauerallee in Gelsenkirchen-Buer. Seitdem haben 20 Künstler mit ihren Werken in der freien Natur originelle Beispiele ihrer Holzbildhauerkunst an Ort und Stelle erarbeitet. Sie alle haben einem verfallenden und deshalb amtlich zum Vernichten durch Abholzen freigegebenen Baum mit ihrer Kunst ein zweites Leben verschafft. Dabei wird jeweils ein noch in der Erde verwurzelter, nur von seinen Ästen befreiter Baumstamm an seinem Standort durch die menschlich-künstlerische Arbeit zu einem Kulturprodukt gestaltet. Kunst und Natur werden in eine spannende Beziehung zueinander gebracht, denn während die Natur wächst und sich immer wieder regeneriert, ist die „Kunst am Baum“ dem Wind und dem Wetter ausgesetzt und damit auch dem Verfall preisgegeben.
Dieses ungleiche Spiel wird für den Betrachter als Prozess besonders wahrnehmbar, wenn er sich dem Kunstobjekt nähert und erkennt, wie es sich im Verlauf der Jahreszeiten im wechselnden Tageslicht immer wieder verwandelt. Nicht zuletzt verändert es sich, wenn es sich aus unterschiedlichen Perspektiven der Kunst in ihrem natürlichen Umfeld betrachtet wird.
Für den Kunsthistoriker Falko Herlemann, der die Skulptur „Befreiung“ vorstellte, ist die Figur am oberen Ende des Baumes „…eine abstrahierte Figur, die aus dem Baum wächst. Die Hände dieser Figur pressen sich gegen den Stamm. Der Kopf reckt sich gegen den Himmel. Schaut man von ganz nahe, sieht man, wie fließend die Figur aus dem Holz gearbeitet ist. Da bleibt unten die gewachsene Rinde stehen. Sie erdet den Baum. Sie lässt den Baum als ein natürlich Gewachsenes erscheinen. Die Form des Baumes verjüngt sich nach oben hin, um dann wieder leicht auseinanderzulaufen…
Parallel zum Wuchs des Baumes wird ein großer dunkler Spalt sichtbar, der sich nach oben hin vergrößert. Er könnte fast natürlich sein. Hier ist das Holz dunkel geflämmt. Aus diesem Spalt erhebt sich oben die sehr expressive Figur. Es ist eine gesichtslose Figur. Sie scheint eher männlich zu sein. Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass sie bekleidet ist. Sie trägt ein T-Shirt. Was sie zu einer alltäglichen Figur macht. Es könnte eben jeder von uns sein. Diese Figur scheint ihrerseits den dunklen Spalt fast aktiv aufzubrechen. Sie drückt den Stamm mit aller Kraft auseinander. Sie hat dabei etwas Zerstörerisches. Eine Hand greift kräftig gegen den Stamm, die andere geht fließend in ihn über.
Die Schultern nehmen diese Bewegung auf.“ Als ich die etwa 4 Meter hohe Baumskulptur zum ersten mal zwischen den Bäumen im Park sah, leuchtete das bearbeitete rohe Holz, angestrahlt von der Sonne an einem vormittäglichen Hochsommertag. Mein Blick ging sofort nach oben. Die Figur erschien mir wie der Glücksmoment der „Selbstbefreiung des Menschen von der Natur“. Der Mensch, selbst Teil der Natur, löst sich aus ihr und macht sich zu ihrem Beherrscher.
Durch seine Arbeit macht er sich die Erde untertan. Doch dabei bleibt es nicht. Denn er macht sich auch zum Beherrscher seiner Artgenossen.
Und so wurde ich am gleichen Ort auf einen in der Nähe der „Befreiung“ stehenden Baumstamm mit einer bizarren gesplitterten Spitze aufmerksam. Der Zufall will es so, dass ein anscheinend durch Naturgewalt brutal geschädigter Baum einen merkwürdigen und nachdenklichen Gegensatz zum gestalteten Kunstbaum schafft. {jcomments on}