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Als das Schwein vom Himmel fiel, war der Ausschnitt vom Himmel, den man durch die kachelgroße quadratische Panzerglasscheibe im Dach des Transporters sehen konnte, von dem lichten, unschuldigen Blau eines frühen Morgens. Diese Transporte finden immer am frühen Morgen statt.

Vielleicht weil der Morgen noch so rein ist, so unbefleckt von der Geschäftigkeit des Tages. Oder weil die Ampeln noch nicht wieder eingeschaltet sind und der Transporter in gleichmäßiger Geschwindigkeit seinen Weg nehmen kann. Oder als Reminiszenz an die vergangenen Zeiten der Todesstrafe, deren Vollstreckung kurz nach Sonnenaufgang erfolgte.

 

Wir hatten die Fahrt bisher schweigend verbracht, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, nur mit sich selbst beschäftigt und die anderen kaum beachtend. Karikatur: Uli QuesteManchmal drangen gedämpfte Gesprächslaute der beiden Wachleute durch die Trennwand zur Fahrerkabine und vermischten sich mit dem gespenstisch leisen Surren des Elektromotors des Fahrzeugs und den sanften Rollgeräuschen der Räder auf dem Flüsterasphalt zu einem kaum hörbaren vibrierenden Summen, wie ich es aus früheren Tagen her noch von meiner elektrischen Zahnbürste in Erinnerung hatte.

 

Ich glaube übrigens, dass das Verbot der elektrischen Zahnbürsten einer der Wendepunkte war – nicht unbedingt der entscheidende, aber doch ein wichtiger. Vielleicht noch nicht einmal das Verbot selber, sondern vielmehr die bürokratische Exekution des Verbotes. Zwischen dem Erlass des Gesetzesparagraphen (§183 b, 3. Änderung der Erweiterung der Novellierung des Energiesparüberleitungsgesetzes, Abschnitt 2: Haushaltsgerät, Gruppe 3: Kleingeräte) und seiner Inkraftsetzung lagen kaum mehr als zwei Wochen. Die Regierung drückte aufs Tempo, um die geplanten Energiesparziele nicht nur einzuhalten, sondern zu übertreffen. Und das Verbot der elektrischen Zahnbürsten war einer der neuen Bausteine – von seinem Einsparpotential her eher gering, aber von der Auswirkung überraschend groß.

 

Zum ersten Mal gab es Formen des öffentlichen Protestes, zunächst als passiver Widerstand. Große Teile der Bevölkerung gaben ihre Zahnbürsten nicht fristgerecht an den eingerichteten Sammelstellen ab oder brachten alte und defekte Modelle dorthin, nachdem sie vorher ganz offensichtlich noch neue gebunkert hatten, bis sie aus den Regalen der Märkte verschwunden waren. Aber auch aktive Formen des Protestes machten sich breit: Öko-Femen zogen vor den Sammelstellen blank mit Parolen wie „Elektro-Bürsten sind Menschenrecht“ oder „Blanke Brüste für elektrische Bürsten“, Energieaktivisten verschmierten die Regale, in denen die neuen Bio-Bürsten ausgestellt waren, mit Ahorn-Sirup und schütteten sie mit Kompost zu, spontane Kleindemonstrationen zogen mit Surrenden Zahnbürsten, die in die Luft gehalten wurden, durch die Innenstädte, um sich beim Eintreffen der Ordnungskräfte sofort wieder aufzulösen. Die Regierung zeigte sich unbeeindruckt, zog ihr Gesetz durch und diffamierte die Protestierenden als Handlanger der alten Atom-Lobby.

 

Als das Schwein auf der Panzerglaskachel des Daches aufschlug und im Bruchteil einer Sekunde deshalb der Fahrgastraum verdunkelt war, bremste der Transporter abrupt und durch den Lautsprecher an der Trennwand kam das Kommando: „Ruhe bewahren!“ Niemand von uns sagte ein Wort, in der Stille war nur vierfaches Atmen zu hören. Doch die Stille hielt nicht an. Vom Dach des Fahrzeugs her war ein Quietschen zu hören, als das Schwein oder das, was mal ein Schwein gewesen war, sich langsam und schleifend in Bewegung setzte und den Blick auf das Lichtquadrat wieder freigab. Das jungfräuliche Blau des Himmels war nun von blutig-roten Schlieren durchzogen, gespenstische rosa Lichtfetzen fielen in den Innenraum, von der Front des Fahrzeugs her war ein Wummern und Rumpeln zu hören, auch Schreie drangen ins Innere , angefüllt mit den Rufen der Wachhaben und dem Schlagen von Türen.

 

„Ich dachte, wir fahren in den Knast und nicht auf eine Abenteuerreise“, meinte Kotzer und lächelte. „Das heißt nicht Knast, das heißt ´Therapiezentrum für soziale Eingliederung´, korrigierte ihn Ehrmann. „Mir doch egal“, ließ sich Gratzek vernehmen. „Was war das überhaupt?“ fragte ich mit Blick auf die Delle im Dach. Bevor jemand der anderen antwortete, knackte es im Lautsprecher. „Sie werden jetzt in ein Sicherungsfahrzeug umgeladen. Verlassen Sie nach Öffnen der Tür in alphabetischer Reihenfolge den Transporter. Sie werden von Sicherheitskräften begleitet. Bewahren Sie Ruhe!“ „Alphabetische Reihenfolge? Vor- oder Nachnamen?“ Kotzers Frage blieb natürlich unbeantwortet. Stattdessen wurde die Tür im Heck des Fahrzeugs geöffnet. Wir stiegen aus.

 

Draußen bot sich uns eine unwirkliche Szenerie. Verspritztes Blut, Knochen und Gewebeteile, Hautfetzen und Fettklumpen bedeckten das Areal rund um den Transporter, der von Sicherheitsleuten abgeschirmt war, um Schaulustige fernzuhalten. Ein Schweinskopf, dem aber ein gutes Viertel der rechten Hälfte samt dem Auge fehlte, lag auf der Motorhaube in einem Schmierfilm aus Innereien und grinste hämisch mit dem linken Auge in Richtung Frontscheibe.

 

Noch bevor ich wirklich alle Einzelheiten erfassen konnte, wurde unsere Gruppe zu dem Sicherungsfahrzeug geschoben, das etwa zwanzig Meter vor unserem Transporter mit bereits laufendem Motor wartete. Wir stiegen ein, das Fahrzeug setzte sich in Bewegung.

 

„Machen Sie immer so!“ meinte Gratzek. „Was? Schweine auf Dächer schmeißen?“ „Blödmann“, gab Gratzek an Kotzer zurück. „Ein Sicherungsfahrzeug vorausschicken – für Notfälle.“ „Eben. Zum Beispiel für Schweine, die aus dem Weltall kommen.“ Kotzer lachte laut auf.

 

„Illegale Fleischeinfuhr!“ Ich sah Ehrmann an. „Bitte was?“

 

„Illegale Fleischeinfuhr“, wiederholte Ehrmann. „Für die Superreichen, die sich das Fleisch noch leisten können. Ein ausgeklügeltes System von Schweineschleppern mit Beziehungen zu den Sicherheits- und Verladekräften an Flughäfen. Die Schweine werden in den Fahrgestellschächten von aus dem Ausland kommenden Flugzeugen transportiert und dann zu den Endabnehmern verfrachtet – zerlegt in verbrauchsfertige Portionen. Ein Geschäft mit schwindelerregenden Gewinnmargen – trotz der Schmiergeldströme, die fließen müssen. Transportarbeiter an den Flughäfen, Wachdienstkräfte, Bodenpersonal, Fleischzerleger und -verpacker. Ein Netzwerk.“ „Woher weißt du das?“ Ehrmann antwortete nicht. Stattdessen krempelte er den rechten Hemdsärmel hoch. In der Armbeuge war ein Schweineohr eintätowiert. Ich nickte. „Alles klar! Und was ist schief gelaufen?“ „Wahrscheinlich eine Verkettung von Fehlern. Das Schwein war nicht gut genug vertaut, die Fahrgestellschächte wurden zu früh geöffnet, Luftlöcher – kommt schon mal vor. Ein bisschen Schwund ist immer“. „Zumindest zerlegt werden muss es jetzt nicht mehr!“ Wieder lachte Kotzer auf. Mir gingen auf einmal die ersten Zeilen des alten „Blood, Sweat and Tears“-Titels „spinning wheel“ durch den Kopf: What goes up, must come down. Die Schweine-Nummer wäre ein tolles Musik-Video geworden!

 

Der Wagen hielt an. Offensichtlich wurde ein Tor geöffnet, denn er setzte sich nach einem Moment des Wartens wieder in Bewegung, um dann erneut zu stoppen. Der Motor ging aus, die Hecktür wurde geöffnet, man fordert uns auf auszusteigen. Wir kletterten aus dem Fahrzeug und standen auf dem Innenhof des Therapiezentrums. Hier sollten wir also die nächste Zeit verbringen – je nach Dauer unserer „Verordnung“. Hier sollten wir also zu umweltgerechtem Verhalten und Verbraucherbewusstsein erzogen werden.

Wahrscheinlich hatten wir es auch nötig.

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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