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1. Tag, gegen 19. 00 Uhr

Kotzer hießt natürlich nicht Kotzer, sondern Lengerich, aber er war für alle hier – auch das Personal, jedenfalls die niedrigen Ränge – nur Kotzer. Auch ich nannte ihn Kotzer – jedenfalls seit unserem ersten gemeinsamen Duschgang am Abend unserer Einlieferung.

 

Als das Wasser die Berge von Seifenschaum abgespült hatte, der ihn wie ein Kokon verhüllte, sah ich das Tattoo, das unterhalb der beiden Mamillen quer über die Brust verlief: „Eure Korrektheit kotzt mich an“, war da zu lesen – in Frakturschrift. Wir schlappten in unseren Hanf-Badepantoletten zu den Spinden.

„Werde demnächst mal ausprobieren, ob man diese Bio-Flip-Flops rauchen kann. Übrigens: Kennst du den: kommt ein Mann mit zwei linken Füßen in ein Schuhgeschäft und fragt den Verkäufer: Haben Sie auch Flip-Flips?“

Kotzer trat, während er über seinen Witz lachte und sich mit dem Handtuch abrubbelte, einige Schaumbläschen auf den Kacheln platt, was ein schmatzendes Geräusch erzeugte, so als wenn man während der Zeit der Krötenwanderung eine Marschkolonne dieser Viecher mit einem Auto platt fuhr.

Mit Blick auf die lachenden Sonnen und Windräder, die als Motive die Fußboden- und Wandkacheln zierten, sagte er: „Das ist es, was mir auf die Nerven geht, diese biedermeierliche Nachhaltigkeitsästhetik, dieser Fortschrittskitsch, dieser Öko-Trash.

Karikatur Kotzer„Deshalb trägst du dieses Tattoo?“ fragte ich ihn.

„Ich trage es nicht nur – ich habe es öffentlich gezeigt. Was meinst du, warum ich hier bin.“

Wir fischten unsere Kleidung aus dem Spind und begannen, uns anzuziehen.

„Ich habe mich eines Tages vor eines dieser super-korrekten Speiselokale gestellt, mein T-Shirt ausgezogen, damit die Gut-Esser das Tattoo auch sehen konnten, habe meine Gitarre umgehängt und gesungen:

Eure Korrektheit kotzt mich an

Das sag ich euch als freier Mann

Und ruf euch zu beim korrekten Essen

Ihr kotzt mich an, ihr Korrektheitsfressen!

Zugegeben: Künstlerisch gesehen nicht besonders anspruchsvoll – aber dafür mit hohem Provokationsfaktor. Den Essern direkt am Fenster fielen die Tofubällchen und Grünkernbratlinge reihenweise aus dem Gesicht. Ich hatte die Zeilen kaum zweimal widerholt, da hatte ich allerdings auch schon den GREEN-WATCHER des Fresstempels an den Hacken – und meine Karriere nahm erneut eine Wende. Und jetzt bin ich hier!“

Kaum dass ich die Unterwäsche anhatte, begann wieder dieses teuflische Jucken der Haut.

„Verdammt noch mal – ich vertrag diese Unterwäsche nicht. Ich bin gegen die Wolle allergisch.“

„Ich bin gegen das System allergisch“, meinte Kotzer, dem die Unterwäsche keine Probleme bereitete.

Mir juckt nicht die Haut, mir juckt sozusagen das Fell. Hat es schon immer getan. Auch in den alten Zeiten. Ich war schon immer dagegen. Als Künstler muss man immer dagegen sein, immer gegen die Mehrheit, immer gegen das, was gerade als das Gute gilt. Künstler sein heißt, sich nicht gemein machen mit der Mehrheit, im Fortschritt schon den Rückschritt sehen und in den versteinerten Verhältnissen die Melodie hören, nach der man tanzen kann.“

 

Der Kabinengang der Umkleide hatte sich geleert, die anderen aus unserer Abteilung strebten bereits dem Speisesaal zu, wir setzten uns auf eine der Bänke zwischen den Spinden und genossen für einen Moment die wohlige Erfrischung, die uns das Wasser geboten hatte. Kotzer rieb Daumen und Zeigefinger beider Hände gegeneinander. „Mann, würde ich mir jetzt gerne eine Kippe drehen. Vielleicht versuche ich es doch mal mit den Schlappen als Tabakersatz. Ich war immer Raucher, wahrscheinlich habe ich schon im Mutterleib geraucht, als andere sich noch vom Fruchtwasser ernährt haben. Nach jedem Auftritt habe ich geraucht, vor jedem Auftritt habe ich geraucht, manchmal sogar dabei. Nur zwischen zwei Zigaretten habe ich nicht geraucht.“

 

„Ich habe nie geraucht, bin aber bei einem Raucher-Flashmob hops genommen worden.“

„Das ist ja sowas wie tragische Ironie. Respekt, Respekt!“, bekundete Kotzer. Dass ich aus eher geschäftlichen Interessen an dem Flashmob teilgenommen hatte, verschwieg ich nach diesem Lob.

„Du bist aufgetreten, als was? Müsste ich dich kennen?“ fragte ich stattdessen.

„Nein. Keine Schande, wenn du mich nicht kennst! Straßenmusiker, Kleinkunstbühnen, die eine oder andere private Feier, das eine oder andere Stadtfest. Alles nichts Großartiges. Aber zum Leben hat es gereicht – mir jedenfalls. Ich hatte meine Freiheit, und das war mir wichtig. Von niemandem abhängig zu sein. Freiheit eben! Als die GROSSE ERNEUERUNG in Gang kam, hatte ich zusehends Probleme. Meine Lieder, Witze und Texte wurden immer häufiger als ´unerwünscht` klassifiziert, Engagements bei öffentlich geförderten Veranstaltungen blieben aus, und immer mehr Privatkunden zogen sich zurück – Schisser eben. Mehrfach wurde ein Platzverbot für Innenstädte ausgesprochen, die Lizenz zum Auftreten in Einkaufszonen wurde mir entzogen. Da habe ich mir das Tattoo stechen lassen und mich vor den Fresstempel gestellt. Schade, dass ich nicht einen solchen Schweinskopf dabei hatte wie den von unserem Transporter. Den hätte ich liebend gerne in das Lokal geworfen und gerufen: Nehmt hin und esst! Das hätte ein schönes Chaos gegeben! Vielleicht beim nächsten Mal!“

„Was wohl aus unserem Schwein geworden ist?“

„Tierkadaverbeseitigungsanstalt“, meinte Kotzer, „wohin sonst. Sondermüll eben.“

Wir standen auf und ich sagte: „Los, gehen wir zum Essen!“

„Weißt du, woran mich die Schweinefetzen erinnert haben?“ fragte Kotzer. Ich antwortete nicht, er würde es mir sowieso sagen.

„An einen schönen Witz – auch wenn die Flugrichtung unseres Schweins eine andere war, nämlich von oben nach unten.“

„Na also“,dachte ich.

„Weißt du, warum auf einen islamistischen Bomben-Selbstmordattentäter 72 Jungfrauen im Paradies warten?“

Wieder antwortete ich nicht, die Lösung würde schon gleich kommen.

„Weil der doch in Teilchen im Paradies ankommt.“

Kotzer lachte immer noch, als wir den Speisesaal betraten.{jcomments on}

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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