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1. Tag, 8.30 Uhr

Warum er von den Insassen der Anstalt Qualle genannt wurde, war auf den ersten Blick klar. Ein gut 130 KG schwerer gallertartiger Organismus saß hinter einem Schreibtisch und blätterte mit seinen beiden Tentakeln in einem Aktenordner, als wir eintraten, begleitet von einem schweigsamen Wachmann (die offizielle Bezeichnung war „Betreuer“).

Auf dessen stumme Anweisung hin nahmen wir nebeneinander an einer grünen Linie Aufstellung, die in zwei Metern Abstand parallel zum Arbeitsplatz von Qualle verlief. Qualle schwitzte.

Mein Blick glitt unter den Schreibtisch, wo seine erstaunlich kleinen Füße zu sehen waren, die in braunen Slippern und rot-weiß geringelten Söckchen steckten. Zwischen den Söckchen und dem Hosensaum ließ Qualle seinen Beinen viel Freiraum. Fasziniert starrte ich auf das Fleischgebirge, das aus den Socken hervorquoll und von Besenreisern und Krampfadern durchzogen war. Ich stellte mir seine Waden vor und mutmaßte, ob ihre Größe ausreichte, um durch die Krampfadern das Nil-Delta (links) sowie den Amazonas samt Nebenflüssen (rechts) detailgetreu abzubilden. Als plötzlich ein Vögelchen durch den Raum zwitscherte, verließ ich das Amazonas-Becken und das Nil-Delta und sah nach oben, wobei mein Blick kurz die Porträts des Regierungschefs und der Parteivorsitzenden streiften, die mich aus großformatigen Rahmen an der Wand hinter Qualles Tisch mit einer kalten Freundlichkeit fixierten.

Qualle Kapitel 3Das Vögelchen war Qualles in hoher Tonlage in mein Ohr gedrungene Stimme, die mit sanften Flügelschlägen den Raum zu füllen begann. Er hatte sein Aktenstudium beendet und von uns Notiz genommen.

„So, da sind wir also, angekommen, wenn auch mit leichter Verspätung. Aber wer rechnet schon mit fliegenden Schweinen bei einer solchen Fahrt, nicht wahr?“

Und er rechnete wohl nicht mit einer Antwort, sondern fuhr fort: „Die Herren Ehrgart, Gratzek, Lengerich und Schlehmann. Ein interessantes Quartett geben Sie ab. Ein ehemaliger Sterne-Koch, ein vormaliger Bezirksfunktionär, ein Künstler, na ja, ich sage mal: eher Kleinkünstler, und ein …die Liste Ihrer diversen Tätigkeiten ist aber recht lang, na ja, ich sage mal: Angehöriger des ambulanten Gewerbes.

Wir werden nun also in der folgenden Zeit versuchen, Sie wieder zu Mitgliedern unserer Gesellschaft zu machen, die dem Prinzip der 3 KAS, na, ich sag mal…“

Ich hörte nicht mehr hin. Noch ein oder zwei „na, ich sag mals“ von dem Vögelchen und ich bekäme Magenblutungen. Die 3 KAS: Korrekt produzieren – korrekt konsumieren – korrekt leben. Die Grundprinzipien des Programms der Großen Erneuerung. Eigentlich waren es ja vier KAs, denn das korrekte Denken gehörte auch dazu, war nachgerade die Grundlage für die anderen KAs, aber irgendwie passte die Zahl Drei wohl besser zu diesem politischen Hexeneinmaleins, das unser Leben nun schon seit geraumer Zeit bestimmte.

Was die drei anderen wohl ausgefressen hatten, gegen welches Prinzip sie wohl verstoßen hatten? Bei Gratzek dämmert weit hinten in meinem Gedächtnis etwas auf, weil Qualle ihn als ehemaligen Funktionär bezeichnet hatte; da war mal irgendwas mit einem Verfahren wegen Korruption, wenn ich mich recht erinnerte. Und um was es bei Ehrgart ging, konnte ich mir in etwa ausmalen, seit er uns im Transporter das Schweineohr-Tattoo gezeigt hatte.

Gratzek hustete. Das riss mich wieder in den laufenden „na, ich sag mal“-Vortrag zurück.

„Wenn Sie das jeweils auf Sie zugeschnittene Programm erfolgreich durchlaufen haben und wir eine positive Prognose über Ihr zukünftiges Verhalten erstellen können, dann werden Ihre Strafen zur Bewährung ausgesetzt, und Sie können wieder, na, ich sag (bitte, bitte nicht schon wieder, dachte ich!) mal so (oh, eine Variante, das rettete mich vor einem Blutsturz), ein ehrbares und glückliches Leben als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft führen.“

Ob ich überhaupt ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft werden wollte, schien niemanden zu interessieren. Schon beim Prozess hatte mich niemand danach gefragt. Sogar mein Pflichtverteidiger ging stillschweigend davon aus, dass ich so ein „Vollwert-Typ“ war wie viele um mich herum. War ich aber nicht, jedenfalls solange nicht, wie es verordnet wurde, vollwertig zu sein. Im Strom der gesetzlich geregelten Glückseligkeit wollte ich nicht mitschwimmen. Verordnetes Glück war für mich ein schales Gefühl, das im Mund zerbröselte wie zu alter Schiffszwieback – fade, trocken, ungenießbar!

Gegen viele der Neuerungen hatte ich eigentlich überhaupt nichts – wer kann schon ernsthafte Einwände gegen gesunde Nahrungsmittel, saubere Energie, den Schutz von Flora und Fauna haben. Wohl niemand – bis auf die, die sich an gepanschten Lebensmitteln, schmutziger Energie und der Ausbeutung von Flora und Fauna eine goldene Nase verdient hatten und denen es früher bei jeder Gesetzesinitiative gelungen war, ihre Interessen den Abgeordneten einfühlsam und energisch zugleich ins Ohr zu blasen, unterstützt von der einen oder anderen Zuwendung, bis das ursprüngliche Gesetzesvorhaben so verwässert war, dass man weiterhin ohne ernsthafte Einschränkungen seinen Profit machen konnte. Nein, dass jetzt in dieser Beziehung ein anderer Wind wehte, das war schon in Ordnung.

Aber alles andere nicht: der ständige missionarische Eifer, die Belehrungen, die Regelungswut, die bis in kleinste Details des Lebens reichte, und das Gehabe einer Öko-Kaste, die nicht nur glaubte, den Schlüssel zum richtigen Leben gefunden zu haben, sondern auch meinte, allen anderen dieses Leben mit einem ständigen wissenden Lächeln im Gesicht aufdrängen zu müssen und den Menschen tagtäglich ihre ideologischen Glückskekse verabreichte.

Irgendein schlauer Kopf hatte mal vor vielen Jahrzehnten die These aufgestellt. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Ich hatte mir stattdessen die Devise angeeignet, das Falsche im Richtigen zu tun, um zu leben, und im Meer der dreifachen Korrektheit kleine Inseln der Unkorrektheit zu besiedeln. Und ganz offensichtlich war ich nicht der einzige. Drei standen schon mal neben mir an der grünen Linie, weitere hockten in der Anstalt, um zum Glück erzogen zu werden, und der Abnehmerkreis meines Glühlampenhandels (das „ambulante Gewerbe“, hatte Qualle es genannt) gehörte auch zu denen, die die Freiheit des Unkorrekten in ihren Alltag holten.

„Wir haben Sie für die ersten vierzehn Tage verschiedenen Arbeitsbereichen zugeordnet. Lengerich und Gratzek: Handy-Recycling, Ehrgart selbstverständlich Küche – wir wollen ihr Talent schließlich nicht verkommen lassen – und unser Handelsmann wird Gehilfe in der Bücherei. Denken Sie immer daran: arbeiten zu dürfen, ist eine Chance, die sie nicht verspielen sollten. Ihr Bereichsleiter wird Sie nun zur Wäschekammer und anschließend zu Ihren Räumen führen und Ihnen weitere Instruktionen zum Tagesablauf und zu den Verhaltensregeln geben. Ich wünsche Ihnen einen guten Start und einen erfolgreichen Aufenthalt bei uns.“

Das Vögelchen hatte ausgezwitschert. Qualle nahm sich einen neuen Aktenordner vor, der Wachmann nickte uns auffordernd zu, wir trotteten los. Die Augen des Regierungschefs und der Parteivorsitzenden verfolgten uns, bis wir Qualles Büro verlassen hatten.{jcomments on}

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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