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7. Tag, vormittags

Ich trabte über eine Wiese, deren Wildblumenteppich in allen Farben leuchtete, der Wind fuhr mir mit sanften Fingern durch die Mähne und streichelte meinen Nacken. Am Ufer des kleinen Sees, dessen Wasser silberne Lichtreflexe aussandte, hielt ich an, um zu trinken. Ich neigte mein Haupt und erschrak.

Mein Horn hatte sich in eine blutig verschmierte Beule verwandelt. Ich begann zu weinen. Goldene Tränen rannen aus meinen Augen, fielen auf die Erde, zerplatzten und verwandelten sich verpuffend in Popcorn. Ich stürzte zu Boden, verlor das Bewusstsein und hörte in den Nachklang meines Traums die Stimme flüstern:

„Ruhig, ganz ruhig. Es wird alles gut!“

Es war eng. Sehr eng. Fast unbequem eng zu nennen. Jedenfalls unter anderen Umständen. Aber jetzt störte mich die Enge nicht. Wegen der Umstände.

Sie lag neben mir.

Auf der Liege in ihrem Behandlungszimmer.

„Vielleicht sollte ich dich ab jetzt Einhorn nennen“, sagte sie. „Aber natürlich nur, wenn wir alleine sind.“

Ich tastete an meine Stirn. Die Vorwölbung in der Mitte war zwar noch kein Horn, aber auf dem besten Wege dahin. Eine mittelprächtige Beule.

Erneut ihre Stimme.

„Der Schreibtisch hat keinen Schaden davon getragen. Und die Bilder stehen schon wieder am richtigen Platz.“

Ach ja, die Bilder. Dieser Typ und die zwei Sonnenscheine, die ich weggefegt hatte.

„Tut mir leid, das mit den Bildern. Ich wollte nicht…“

„Davon gehe ich jetzt ´mal aus!“

„Und wovon soll ich ausgehen? Ist das hier so eine Art Therapie?“

„Könnte man so sehen“, antwortete sie.

„Wird aber nur in ganz speziellen Fällen bei einem ausgewählten Patientenkreis angewendet. Und die Kosten werden nicht von der Krankenkasse übernommen. Das Verfahren ist auch noch nicht durch wissenschaftliche Studien abgesichert, eher noch im Stadium des Experiments.“

„Und wie viele Probanden nehmen an diesem Experiment teil?“ fragte ich.

Sie drehte sich zu mir hin, sah mir in die Augen und fuhr mit den Fingern ihrer rechten Hand leicht über mein Hörnchen. Es tat nicht weh.

„Bis jetzt nur einer. Du!“

„Mmhh. Und was sagt der Typ dazu?“

„Welcher Typ?“

„Na, der auf dem Foto. Dein Mann und die Kinder.“

Ohne zu überlegen, fast wie selbstverständlich war ich auch zum Du übergegangen.

„Männer“, lachte sie.

einhornpopcorn„Immer gleich den Konkurrenten sehen, nicht wahr. Und wenn es mein Mann ist? Vielleicht funktioniert die Therapie trotzdem – oder gerade deshalb!“

„Und, ist es dein…“.

„Du bist vielleicht nicht das letzte Einhorn, und auch nicht das erste, aber im Moment das einzige.“

„Beruhigend zu wissen!“

„Und falls es dich noch mehr beruhigt: mein Bruder und seine Kinder mischen sich in meine Therapieverfahren normaler Weise nicht ein.“

Sie küsste mich. Ich stellte mich auf ein abermaliges Aussetzen meines Herzschlages ein. Aber ganz im Gegenteil. Meine Pumpe legte an Tempo zu.

„Na, wirkt das Verfahren?“

Sie legte ihre Hand auf mein Herz.

„Nimmt ja ganz schön Fahrt auf. Du bist ja schon kurz vor einer Tachykardie.“

„Ich weiß zwar nicht, was das ist, Tachykardie, aber mach´ ruhig weiter.“

„Ein anderes Mal – vielleicht. Im Moment lasse ich das ´mal lieber mit der Extra-Behandlung von Mund zu Mund. Das Schnitzwerk von deinem Küchenfreund gefällt mir übrigens sehr. Aber das Behandlungszimmer ist wohl nicht der richtige Ort, um es aufzustellen. Es bekommt einen Ehrenplatz bei mir zu Hause.“

„Und wie komme ich zu der Ehre dieser speziellen Therapie?“

„Popcorn!“

„Wie, Popcorn?“

„Es ist wie mit Popcorn. Alles war da. Öl, Mais, ein Topf, sogar Hitze, um das Öl auf Temperatur zu bringen. Aber kein Deckel. Ohne Deckel auf dem Topf wird es nichts mit dem Popcorn. Spätestens, wenn die ersten Maiskörner anfangen, sich zu verpoppen, muss der Deckel drauf.“

„Und ich bin der Deckel?“

„Mag sein!“

„Und du magst Popcorn?“

„Seit meinen Kindertagen“, antwortete sie.

„ Und natürlich selbst gemacht. Auf dem Herd. Ich habe das von Anfang an geliebt, wenn sich der Mais ausweitet, platzt und mit einem Knall gegen den Deckel des Topfes springt, weil er sich in dieses luftig-leichte Nichts verwandelt.“

„Und wie isst du Popcorn?“

„Mit den Fingern natürlich!“

„Ich meinte: süß oder salzig?“

„Salzig, salzig, nicht klebrig süß“.

„Wunderbar! Ich auch“, antwortete ich.

„Warum auch immer: Aber das wusste ich“, sagte sie und lächelte.

Ich schlief wieder ein.{jcomments on}

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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