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Mitte Januar, vor fünf Jahren

Die beiden Güterzüge prallten mit hoher Geschwindigkeit um 3.14 Uhr aufeinander. Die Lokomotiven verkeilten sich, sprangen aus den Gleisen und rissen die Waggons mit, die vereinzelt oder in Zweier-und Dreiergruppen aus der Spur gerieten und wie verrenkte und herausgerissene Gliedmaßen eines gigantischen Körpers an der Böschung längst der Bahnstrecke entlang rutschen, bis sie, umgestürzt, auf die Dächer gedreht, teilweise ineinander geschoben, eingedrückt oder wie von einer stählernen Faust zermalmt, ihre Fahrt beendeten.

 

Wie die Teile eines grotesken Puzzles bedeckte der Inhalt von vielen Waggons des Zuges, der, aus dem Norden kommend, Stückgut transportiert hatte, die Unglücksstelle: Maschinenteile, zerborstene Kisten und Fässer mit Baumaterialien und Werkzeugen, Blech- und Kabelrollen, Gebinde von Pappe und Papier. Drei der Frachtcontainer des Zuges aus dem Süden waren der Länge nach aufgerissen und ließen das Chlorgas frei, das die Menschen im nächtlichen Schlaf überraschte.

Zwei Tage nach der Katastrophe zog der Einsatzleiter der Rettungskräfte eine erste Bilanz: fast dreihundert Tote waren zu beklagen, auf die Krankenhäuser der Region waren mehr als zweitausend Verletzte verteilt worden, von denen mindestens noch zweihundert in Lebensgefahr schwebten.

Noch am selben Tag wurde die Ursache für das Unglück bekannt gegeben: eine falsche Weichenstellung auf der Strecke.

Einen weiteren Tag später präsentierte man einen Verantwortlichen, einen Fahrdienstleiter, der in dieser Nacht für den technischen Betrieb im Bereichsstellwerk zuständig war. Der Mann beteuerte in einer ersten Stellungnahme seine Unschuld, wies auf das von Computern gesteuerte Weichenprogramm hin, sagte aus, dass alles nach Plan gelaufen sei und keine Störungen der Weichenstellungen angezeigt worden wären, so dass kein Eingreifen seinerseits nötig erschienen sei.

Bei den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft stellte sich allerdings heraus, dass die Datenprotokolle der Nacht des Unglücks, die normalerweise ein halbes Jahr lang gespeichert wurden, gelöscht waren. Wer die Löschung vorgenommen oder veranlasst hatte, konnte nicht geklärt werden. So fiel der Verdacht auf den Fahrtdienstleiter, der in Untersuchungshaft genommen wurde.

Am Morgen des vierten Hafttages fand man ihn an seinem Ledergürtel aufgehängt, der am Fensterkreuz der Zelle befestigt war. „Selbstmord durch Erhängen“ lautete der Obduktionsbefund. Eine Erklärung, wie er an den Gürtel gekommen war, obwohl ihm alle persönliche Gegenstände und seine Kleidung bei der Einlieferung abgenommen worden waren, gab es nicht.

Cui BonoBei der Untersuchung der Gefängniskleidung entdeckte man in der rechten Gesäßtasche einen Zettel, auf dem in Druckschrift stand: Lang lebe die PDSG! Ein Schreibgerät war weder in der Zelle noch in der Kleidung gefunden worden, auch die Herkunft des Papiers blieb unklar.

Trotz der Ungereimtheiten, unter denen der Mann zu Tode gekommen war, wurde sein Tod als Schuldeingeständnis gewertet. Der Verantwortliche für die Katastrophe schien gefunden, die Akte wurde geschlossen. Aber eine Presseschlacht wurde eröffnet.

Die Presseorgane, die der Regierung und der PDKE nahe standen, eröffneten den Krieg der Schlagzeilen mit groß aufgemachten Artikeln, in denen der Fahrdienstleiter als politisches Werkzeug der PDSG hingestellt und das Zugunglück als Sabotageakt interpretiert wurde, der die Regierung und das gesamte Land destabilisieren sollte. In diesen Sabotageakt, so lautete die zentrale Behauptung, seien höchste Parteigremien der PDSG verwickelt.

Die offenen Fragen, die die Ursache des Unglücks selbst, aber auch die Umstände des Todes des Fahrdienstleiters hinterlassen hatten, wurden nicht verfolgt, als unbedeutend glatt gebügelt oder, so etwa im Zentralorgan der PDKE, sogar als Teil des politischen Komplotts interpretiert.

Andere Pressorgane bemühten sich um eine redliche Aufklärung der Vorgänge, versuchten Widersprüche in den staatsanwaltlichen Ermittlungen aufzuzeigen, kritisierten die vorschnellen Festlegungen auf die Täterschaft des Fahrdienstleiters und die nur als unzureichend betrachteten Versuche, Licht in die Umstände seines Todes zu bringen.

Die größte Wochenzeitung des Landes, die der PDKE eher kritisch gegenüber stand, brachte eine Ausgabe heraus, in der akribisch alle Vorkommnisse um das Unglück und den vermeintlichen Selbstmord untersucht und die Vorwürfe gegenüber der PDSG als haltlose Stimmungsmache und politische Propaganda gekennzeichnet wurden. Auf der Titelseite dieser Ausgabe standen in riesigen Lettern auf dem ansonsten rein weißen Papier nur zwei Wörter:

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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