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Ende Januar, vor 5 Jahren, bis heute

Das Parlament gab der neu gewählten Regierung freie Hand, mit Hilfe von Erlassen, Verordnungen, Gesetzesänderungen und Vorschriften zu regieren, ohne jeweils ein Mandat der Abgeordneten einzuholen. Das Parlament verstand sich in seiner Mehrheit selbst nur noch als Akklamationsmaschine für die Entscheidungen der Regierung.

 

Eine wirkliche Opposition gab es nicht mehr. Zwar kehrten die vor der konstituierenden Sitzung verhafteten Abgeordneten der PDSG nach einem guten halben Jahr wieder ins Parlament zurück, weil sich alle erhobenen Vorwürfe als haltlos erwiesen hatten, aber sie kehrten zurück als gebrochene Männer und Frauen, ohne Kraft, der Regierung und den sie tragenden Gruppierungen die Stirn zu bieten. Die PDSG verstrickte sich in interne Debatten darüber, wie auf die neue Situation zu reagieren sei: mit Auszug aus dem Parlament und einer Niederlegung der Mandate, mit einer konstruktiven Oppositionspolitik, um noch größeren Schaden abzuwenden, oder mit schweigender Anwesenheit während der Sitzungen des Parlaments. Eine einheitliche Linie wurde nicht gefunden, die Fraktion der PDSG existierte nur noch auf dem Papier, tatsächlich aber war sie gespalten in kaum handlungsfähige Gruppierungen, die sich gegenseitig blockierten und so der Regierung ungewollt in die Hände spielten. Der Fraktionsvorsitzende zog sich nach einem Jahr interner Grabenkämpfe ins Privatleben zurück, die einstige Regierungsfraktion war kopflos geworden.

Die öffentliche Meinung wurde mehr und mehr von den Regierenden beherrscht. Kritische Pressorgane wurden durch einen „Erlass zur Reduzierung der Papierproduktion zum Zwecke der Schonung der Wälder“ geschwächt, in dessen Folge die Papierzuteilung für Zeitungen und Zeitschriften eingeschränkt und kontingentiert wurde. Während Pressorgane, die der Regierung skeptisch gegenüber standen, häufig keine Papierzuteilungen bekamen und deshalb manchmal tagelang nicht erscheinen konnten, waren regierungsfreundliche Medien stets mit ausreichendem Produktionsmaterial versorgt. Gleichzeitig stieg die Anzahl von bunten Magazinen, die, reich bebildert, täglich von den Errungenschaften der Regierungspolitik zu berichten wussten und mit Kreuzworträtseln, Gewinnspielen, Kochrezepten und Fotostrecken garniert waren, die zeigten, wie sich die Mitglieder der Regierung für das Wohl des Staatsvolkes einsetzten.

Bereits nach eineinhalb Jahren stimmte das Parlament einem Antrag der Regierung zu, der das Aussetzen der in etwas mehr zwei Jahren anstehenden Wahl vorsah und die Legislaturperiode auf zunächst eine Dekade verlängerte.

Ein intellektuelles Leichentuch legte sich über das Land, das in geistige Agonie verfiel und abstarb, wie Pflanzen, die vom Mehltau befallen sind.

Laokkkoon Die Regierung trieb das Programm der drei KAs voran : Produktionsbetriebe in Industrie und Landwirtschaft, die dem Prinzip des korrekten Produzierens, so wie es die Regierung definierte, folgten, wurden hoch subventioniert, bestimmte Gebrauchs- und Konsumgüter (Autos mit Benzin und Dieselmotoren, Fleischprodukte und Kleidungsstücke, die Kunstfasern enthielten) wurden mit Zusatzsteuern belegt, gleichzeitig wurde der Öffentliche Personennah- und fernverkehr zunächst verbilligt, bis er schließlich zum Nulltarif genutzt werden konnte. Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor wurden geschaffen. Das Gesundheitswesen wurde vereinheitlicht und kostenfrei, Kindertagestätten und Schulen wurden ausgebaut, Mietpreissteigerungen wurden gesetzlich eingeschränkt, die materielle und pflegerische Versorgung alter Menschen wurde optimiert.

Dies führte dazu, dass sich das Murren der Bürgerinnen und Bürger nicht nur in Grenzen hielt, sondern die Regierungspolitik in den ersten Jahren große Zustimmung erfuhr. Dass dies alles auf Pump finanziert wurde und mit der Einschränkung von alten Freiheiten verbunden war, wurde achselzuckend in Kauf genommen. Man fühlte sich wohl, solange man in seinem Alltag nicht zu sehr eingeschränkt und gegängelt wurde und materiell abgesichert war.

Das änderte sich erst, als das dritte KA, das korrekte Leben, mehr und mehr das tägliche Leben der Menschen bestimmte. Ein erster großer Schritt dazu war die Einführung der GREEN-WATCHER. Sie gab es in jedem Häuserblock und jeder Straße, in allen Betrieben und öffentlichen Verwaltungen, in Schulen und Kindergärten. Sie achteten im Alltag darauf, dass sich alle korrekt verhielten und nach den Normen der drei KAs lebten: Mülltrennung und Müllvermeidung, das Einsparen von Energie und Rohstoffen, das Waschen von Wäsche mit korrektem Waschpulver, die Reinhaltung der Bürgersteige, das Warenangebot in Supermärkten, die Verwendung korrekt produzierter Bekleidung und Spiel- und Sportgeräte; all das wurde von den GREEN-WATCHERN aufmerksam beobachtet und registriert, um notfalls Verstöße zu melden und Strafmaßnahmen einzuleiten.

Dass das korrekte Ein- und Ausatmen von ihnen noch nicht kontrolliert wurde, war fast ein Wunder.

Das Murren wuchs im Laufe der Zeit mit den weiteren Einschränkungen und Geboten an. Das Streuen von „Gerüchten“ im Netz – gemeint waren damit regierungskritische Äußerungen in Blogs, in Mails und auf Internet-Plattformen – wurde ebenso unter Strafe gestellt wie kritische Äußerungen in Kurznachrichtendiensten, die alle über einen vom Staat kontrollierten Server liefen. Es gab u. a. das völlige Verbot von Fleisch- und Wurstprodukten (Tierschutz, Ökologie), das Verbot, nach 22.00 Uhr elektrische Geräte zu benutzen – auch die gesamte Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik fiel darunter – (Energieeinsparung), die Vorschrift, an Kursen für vegetarisches und veganes Kochen teilzunehmen (korrekte Ernährung), das Einfuhrverbot für Südfrüchte (korrekter Handel), die ausschließliche Zulassung von Elektroautos (Energie und Klimawandel), das absolute Rauchverbot, auch im Freien und in Privaträumen (korrekte Gesundheits-vorsorge). Und schließlich das Verbot elektrischer Kleingeräte wie Rasierapparate, Toaster und elektrische Zahnbürsten (Energieeinsparung).

Und ausgerechnet am Verbot dieser Zahnbürsten hatten sich die ersten Proteste entzündet. Die Menschen machten sozusagen den Mund auf, als man ihnen vorschrieb, wie er zu reinigen sei.

Von diesem Tag an kam es immer wieder zu Protesten: mal gab es kleinere Umzüge (die natürlich nicht genehmigt waren), dann versammelten sich Menschen, ohne etwas zu tun, schweigend auf Plätzen und standen dort für eine Stunde still. Es gab Gruppen, die in Supermärkte gingen und das Personal damit nervten, dass sie an der Obst- und Gemüsetheke Steaks, Leberwürste und Schweineschnitzel verlangten und danach, sich lauthals beschwerend, den Laden verließen. Und vermehrt tauchten an Häuserwänden Graffiti auf, die die Köpfe der Regierungsmannschaft oder der Spitzenkräfte der PDKE karikierten und unter denen zu lesen war „They might be giants“ oder „Das ist ein Scheinriese“.

Diese Proteste hatten noch kein klares Ziel, waren uneinheitlich und von geringem Organisationsgrad – aber genau dadurch waren sie auch weniger beherrsch- und kontrollierbar. Ihre Brisanz bekamen sie für die PDKE dadurch, dass nun die im Parlament verbliebenen aufrechten Kräfte der PDSG mutiger auftraten und gemeinsam mit einzelnen anderen Abgeordneten einen Oppositionskurs einschlugen. Auch in der PDKE selbst kam es zu Widersprüchen und interner Opposition gegenüber dem eingeschlagenen Kurs.

Daneben entwickelte sich so etwas wie eine Parallelgesellschaft die vom illegalen Handel mit Fleischprodukten, Glühbirnen und Elektrokleingeräten bis zu politischen Debattierzirkeln in Kirchengemeinden, Jugendgruppen und Sportvereinen reichte.

Die Regierung reagierte mit zunehmender Härte der Staats- und Sicherheitsorgane, ohne dass es allerdings gelang, die vielfältigen Formen des Protestes und der Unterhöhlung der verordneten Glückseligkeit verhindern zu können. Im Gegenteil: ein Umschlagpunkt war erreicht. Aus kleineren Protestkundgebungen wurden größere Demonstrationen, aus lockeren Debattierzirkeln entstanden örtliche und überörtliche Gruppen, die Aktionen planten, vorbereiteten und durchführten.

Das Leichentuch bekam Löcher und Risse, durch kleine Widerstandszellen ans Licht traten. Die Mehltaupilze hatten begonnen, sich selbst aufzufressen.

Und für heute waren Protestkundgeben in allen größeren Städten angekündigt.{jcomments on}

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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