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 Eine (kurze)Verbeugung vor Michael Ende:

 

Die Leute lachten und kamen gerannt:

In einem Käfig stand sie zur Schau.

Daran hing ein Schild, und darauf stand:

„Ich bin eine Judensau!

Es heißt, daß sie nichts mehr verstanden hat,

denn sie war da schon geistig verstört.

Ich hörte, sie kam nach Theresienstadt.

Sonst habe ich nichts mehr gehört.

 

Der Verfasser dieser Zeilen wäre heute 85 Jahre alt geworden: Michael Ende, der von 1929 bis 1995 lebte und der zu den meist gelesenen Schriftstellern deutscher Zunge gehört. Seine Bücher wurden in 40 Sprachen übersetzt und erreichen eine Gesamtauflage von über 35 Millionen Exemplaren.

Das obige Gedicht hat Ende für Hedy Staackmann geschrieben. Sie war Jüdin und Ehefrau des Trauzeugen von Endes Eltern. Von den Nazis wurde sie einem Käfig auf dem Garmischer Bahnhof ausgestellt wie ein exotisches Tier und später ins KZ verbracht. Ihr Mann, Offizier im 1. WK, wurde von Nazis mit einer Eisenstange erschlagen; er hatte in Uniform vor dem Käfig Posten bezogen, um seine Frau zu schützen.

Ende selbst musste erleben, wie die Bilder seines Vaters, die nicht der NS-Kunsttheorie entsprachen, zunächst kritisiert und dann als „entartete Kunst“ eingestuft wurden. Sein Vater bekam Malverbot.

Ende entzog sich der Einberufung zur Wehrmacht gegen Ende des Krieges durch Flucht und betätigte sich zeitweilig als Fahrradkurier für die Widerstandsgruppe „Freiheitsaktion Bayern“, die in und um München wirkte und deren Mitglieder Ende April von den Nazis hingerichtet wurden.

Endes Erfahrung mit dem Nationalsozialismus spiegelt sich auch in seinem Werk- und vielleicht besonders in dem Werk, das wir am wenigsten unter gesellschaftskritischen Gesichtspunkten betrachten, nämlich „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“.

Diese seltsame Geschichte von einem schwarzen Jungen, der in einer Kiste übers Meer nach Lummerland kommt, scheint auf den ersten Blick (nur) verspielte Kinderliteratur zu sein. Aber auf den zweiten Blick ist es bereits die Einnahme einer gesellschaftlichen Position, wenn Ende in seinem Erstlingswerk, für das er 1961 den Deutschen Jugendbuchpreis erhalten hat, ein schwarzes Kind zum „Helden“ macht (man berücksichtige die Diskriminierung der Kinder von schwarzen GIs im Nachkriegsdeutschland).

Endes Haltung zum NS-Regime, besonders aber zur NS-Rassenlehre, wird an einem anderen Element der Geschichte viel deutlicher. Jim und Lukas wollen samt Emma, ihrer Lokomotive, Prinzessin Li Si befreien, die im Land der Drachen gefangen gehalten wird.

Sie lernen den traurigen Halbdrachen Nepomuk kennen, der nicht ins Drachenland darf, weil er nicht „reinrassig“ ist, denn sein Vater war ein Nilpferd. Über dem Zugang zum Drachenland steht eine Verbotstafel mit der Inschrift: „Achtung! Der Eintritt ist nicht reinrassigen Drachen bei Todesstrafe verboten!“

Durch diese Rassenlehre wird das Drachenland zum Gegenpol von Lummerland- und das über den Austausch nur eines Buchstabens: Ende ersetzt das L im Anlaut durch ein K – und so wird aus Lummerland das Kummerland. Nepomuk aber lernt durch Lukas und Jim, dass er nicht nach irgendeiner Rassenlehre bewertet wird und sich selbst bewerten soll, sondern das Wesen selbst seinen Wert in sich trägt, gleich welcher Herkunft und Abstammung. Der Rassenlehre von Kummerland setzt Ende das verspielte Lummerland entgegen, wo für jeden ein Platz ist(so findet der Scheinriese dort seinen Platz als Leuchtturm).

Ich bin mit den Geschichten von Ende aufgewachsen – vor allem in ihrer Gestaltung durch die Augsburger Puppenkiste.

Es kann aber lohnen, Endes Geschichte von Lukas und Jim auch noch einmal mit den Augen eines Erwachsenen zu lesen.

(ausdrücklich hingewiesen werden soll auf: Julia Voss, Darwins Jim Knopf, S. Fischer Verlag Wissenschaft. Voss bettet die Geschichte von Jim Knopf in biographische Angaben zu Ende ein und stellt Bezüge zu anderen literarischen Werken und zur Zeitgeschichte, zur Rassenlehre, zu Darwin und zum Drachentötermotiv sowie zum Siegfried-Mythos her){jcomments on}

 

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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