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In der SZ vom 23.9.2015 schreibt Gustav Seibt unter der Überschrift „Die Unentbehrlichen“ einleitend: „Ohne die Freiwilligen wäre die Flüchtlingskrise nicht zu bewältigen. Aber niemand hat sie gerufen – zum ersten Mal in der deutschen Geschichte organisieren die Bürger selbst die Nothilfe. Manchmal sogar gegen den Staat.“

Seibt verweist in diesem Zusammenhang auf zwei Aspekte, nämlich dass in der Krise der Nachkriegszeit die Bewältigung des Flüchtlingsstroms (aus dem Osten) auf der Grundlage noch (oder schon wieder) bestehender Verwaltungsstrukturen organisiert wurde und dass die Solidarität und massenhafte Hilfe im Kontext der Flutkatastrophen (1997/2002) durch staatliche Institutionen (z.B. Bundeswehr) organisiert und geleitet wurden.

Nun aber scheint es anders zu sein. Die Menschen am Münchener Bahnhof hat niemand dorthin einbestellt, die Menschen, die in zahlreichen Städten die Verteilung von Kleidung, Lebensmitteln und Spielzeug organisieren, tun dies (zumeist) nicht im Ordnungsrahmen staatlichen Handelns, sondern teilweise sogar im Widerspruch dazu (weil sie weder Führungs- noch Gesundheitszeugnisse vorweisen können). Sie tun das zu Tausenden und Abertausenden – jenseits staatlicher Strukturen, die teilweise längst überfordert oder sogar zusammen gebrochen sind, und auch jenseits der großen Wohlfahrtsverbände und Hilfsorganisationen, die technisch, vor allem aber personell schnell an ihre Grenzen gekommen sind. Eindringlich und eindrücklich beschreibt SPIEGEL-Autor Cord Schnibben („Abschwellender Bocksgesang, SPIEGEL v. 19.9.2015, S. 105 ff.) seine Mithilfe in der Lagerhalle B 7 auf dem Hamburger Messegelände, wo Bekleidung zentral gesammelt, sortiert und weiter verteilt wird. Die Helfer kommen morgens dort an, werden von einem Leitungsteam einem bestimmten Bereich zugeordnet (z.B. Herren-Oberbekleidung, Kinderkleidung, Schuhe etc.) und beginnen mit der Arbeit. Das Leitungsteam ist aus dem Kreis der Helfer selbst gewählt, keine staatliche oder städtische Organisation oder Institution, kein Verband und keine Partei wirkt als Organisator im Hintergrund. Es ist ein bürgerschaftliches Hilfswerk für Menschen in Not!

Was sich hier zeigt ist etwas Mehrfaches, etwas Kompliziertes und auch Widersprüchliches – zunächst aber einmal etwas Großartiges. Es kündet von Mitmenschlichkeit, von Opferbereitschaft, von Tatkraft und dem Willen zu helfen – und dies in einem Land, in dem sich die Wähler immer weiter von den Gewählten entfernen, die Parteien, Verbände und auch die Kirchen sich mit einem wachsenden Bedeutungsverlust konfrontiert sehen. Es kündet auch davon, dass Menschen in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Kälte Feuer der Freundlichkeit und auch der Nächstenliebe zu entzünden bereit sind – seien sie auch in der Minderheit, die einer gleichermaßen staunenden und schweigenden oder von Hass erfüllten Mehrheit gegenüber stehen.

Was sich hier zeigt, kündet aber auch vom Versagen des Staates und seiner Institutionen, die ja deshalb mittlerweile von der FlüchtlingsKRISE sprechen, die aber nichts anderes ist als die Krise staatlicher Organisationen, die auf die derzeitige Völkerwanderung nicht vorbereitet waren, zumal man in Deutschland ja hoffen konnte, die Zahl der Asylsuchenden im Rahmen von Dublin-Beschlüssen zu kanalisieren und zu begrenzen, jedenfalls in der Mehrheit an den Außengrenzen Europas auffangen zu können.

Was sich hier zeigt, kündet aber auch von einer Utopie, von einer tatsächlich von unten her organisierten Gesellschaft, von einer tatsächlichen Beteiligung am Gemeinwesen, ohne Ansehen von Person und Rang, ohne das formale Prozedere institutionalisierter Abstimmungs- und Verwaltungsmechanismen.

Schnibben schreibt in seinem Beitrag, dass in dem Leitungsgremium in Hamburg Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Profession sitzen. Beides spielt dort keine Rolle, nur der Einsatz für die Sache zählt. Und so sind diejenigen im Leitungsgremium, die am längsten dabei sind oder sich in besonderem Maße engagiert und Kompetenz erworben haben. Ihr sozialer Status außerhalb der Halle B 7 interessiert niemanden. Insofern könnte das, was sich jetzt tausendfach in deutschen Städten und Gemeinden abspielt wegweisend sein für den Aufbau einer Zivilgesellschaft jenseits der verfestigten Strukturen.

Was sich hier zeigt, ist aber eben auch die Schwierigkeit, eingefahrene Muster zu überspringen, Kompetenzen neu zu ordnen, aus dem ungeordneten Nebeneinander mit viel Kraft ein geordnetes Miteinander mit noch mehr Kraft zu machen. Es zeigt sich, z.B. auch hier in Gelsenkirchen, dass es an (anerkannten) Personen oder Persönlichkeiten fehlt, auch an verbindenden Institutionen, die die vielfältigen zersplitterten Kräfte um sich vereinen könnten, um ihre Kraft zu vervielfältigen, Transparenz zu schaffen, Reibungsverluste zu minimieren und engstirniges Konkurrenzdenken zu glätten, ohne das bunte Miteinander auszuhebeln. Diese Einheit in Vielfalt wäre aber wünschenswert, denn die Mühen der Tiefebenen kommen erst noch, wenn es darum geht, aus den Fremden und Hilfsbedürftigen Angekommene und schließlich Mitbürger werden zu lassen.

Vielleicht hängen die Helfenden dann in der Luft – ratlos, weil sie nicht wissen, wie das schwingende Trapez zu ergreifen ist.

Aber immerhin: abgesprungen sind wir ja schon.

(der Autor ist ehrenamtlicher Trainer in einem kleinen Gelsenkirchener Fußballverein und gibt seit einiger Zeit dort spielenden jungen Flüchtlingen Deutschunterricht)

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Heinz Niski