Biografie, Fiktion, Wahrheit und Einbildung
1964 erscheint „Mein Name sei Gantenbein“, neben „Stiller“ und „Homo faber“ das dritte Prosa-Hauptwerk des Schweizer Schriftstellers MAX FRISCH. Frisch verfolgt in dem Erzählwerk das Thema der Identität, des Selbst- und Fremdbildes. Der Autor ist auf der Suche nach dem Kern des Ichs und geht spielerisch mit wechselnden Biografien und deren Fiktionalisierungen um. Max Frisch hat einmal gesagt: „Ich probiere Geschichten an wie Kleider“.
Der Erzähler täuscht vor, er sei durch einen Auto-Unfall erblindet und nennt sich Gantenbein, wobei das Spiel mit der Identität schon im Titel anklingt (Mein Name sei Gantenbein). Das Thema der Identität ist für Frisch das große Thema, wie es für seinen Schweizer Kollegen Dürrenmatt das Thema der gesellschaftlichen und moralischen Verantwortung des Einzelnen war. Zwei der drei Physiker in Dürrenmatts tragischer Komödie („Die Physiker“) täuschen das „irre sein“ nur vor, lassen sich, um die Menschheit vor Schaden zu bewahren, in eine Anstalt einweisen und spielen die Rolle von Irren. Der dritte Physiker ist wirklich irre, glaubt daran, dass ihm der König Salomo erscheine. Ihr Irre-Sein „beweisen“ sie dadurch, dass sie ihre Krankenschwestern ermorden.
Aber tatsächlich krank ist die Leiterin der Anstalt, die irre ist und zugleich nach der Weltherrschaft strebt. Ihre Anstalt wird sich als Gefängnis erweisen.
Schaut man vor dem Hintergrund der Texte der beiden großen Schriftsteller aus der Schweiz auf das Interview, das Gordon Wüllner-Adomako mit Frau (Noch-OB) Karin Welge geführt hat, wird man, ohne dass die Namen Frisch und Dürrenmatt überhaupt fallen, einige Stelle finden, die sehr wohl um die Thematik der Identität und der Verantwortung kreisen, wobei der Redakteur es versäumt, an den Stellen, wo es sich angeboten hätte, wirklich „nachzufassen“.
Frau Welge sagt zu ihrer Entscheidung, nicht wieder für das Amt der OB anzutreten:
„Ich habe meiner Familie in den vergangenen 15 Jahren zeitlich und inhaltlich nicht hinreichend Rechnung getragen, ihr nicht so viel Zeit geschenkt, dass ich mich damit heute noch wohlfühlen würde. Ich war die ´Sonntagmorgen-WhatsApp-Omi´ – das kann ich nicht bleiben.“
Hier klingt das Spannungsfeld von Belastung durch das öffentliche Amt und Bewahrung der persönlichen Identität an (Widerspruch zwischen Amt und Privatheit in der Familie), wird aber nicht verfolgt, sondern es wird ein neues Spielfeld betreten: Die Belastung wird auf den Politikbetrieb zurückgeführt und auf die Thematik der „öffentlichen Sprache“, anstatt einmal dabei zu bleiben, wie der oder die Einzelne im Politikbetrieb authentisch bleiben kann, ohne sich selbst zu verbiegen. Welge:
„Wir sollten Politik so einfach gestalten, dass die Menschen sie verstehen können. Aber wir bekommen vieles nicht mehr simpel formuliert, weil die Gesetze so kompliziert sind.“
Was aber heißt das? Sollen wir Gesetze so versimplifizieren, etwa durch „einfache Sprache“, dass auch der Schulabbrecher noch versteht, was gemeint ist? Kann ein Hinweisschild auf eine Waffenverbotszone am Hauptbahnhof nicht von jedem und jeder verstanden werden und sein bzw. ihr Messer zuhause lassen, wenn er oder sie weiß, dass man alsbald den Bahnhof betreten wird und eventuell kontrolliert wird? Sind Geschwindigkeitsbeschränkungungen durch schlichte Hinweisschilder nicht für alle zu verstehen? Ist es also tatsächlich nur (?) eine Frage der Sprache?
Wer seinen Müll auf die Straße kippt, der hat doch zunächst ´mal kein Sprachproblem? Oder geht es hier um Einsatz, Einsicht, guten Willen und das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein und sich in einer anderen Kultur einzuleben, anstatt sich ihr zu verweigern?
Die soeben von Innenminister Reul, dem Sozialpsychologen Prof. Clemens Kroneberg und Maike Meyer (Leiterin der Kriminalistisch-Kriminologischen Forschungsstelle des Landeskriminalamtes) vorgestellte Studie zur Entwicklung von Jugendlichen und ihrer Einstellung zur Kriminalität und Bestrafung stellt fest, dass das Schwänzen von Schule mittlerweile „selbstverständlich“ ist, dass Diebstahl und Gewalt zunehmen und die Hemmschwelle für Straftaten sinkt. Schule schwänzen und Lehrer anlügen finden Schüler von heute weniger bedenklich als noch vor zehn Jahren, so die Studie.
Wüllner-Adomako fragt an einer Stelle des Interviews die scheidende Oberbürgermeisterin, warum sie so selten mit direkter und rabiater Sprache und Ansprache ihre Ziele deutlich gemacht habe? Welge antwortet:
„Es besteht da immer das Risiko, schnell missverstanden zu werden. Das ist gerade in einer polarisierten Gesellschaft, in der wir heute alle leben, ein Riesenthema. Deshalb rede ich auch mal mit loser Zunge – aber ich tue das nicht in einem Interview und nicht in schriftlichen Verlautbarungen.“
Was für uns alle wirklich wichtig ist, ist die Frage des Redakteurs nach dem Zigarettenkonsum der Oberbürgermeisterin. Ihre Antwort:
„Ich habe seit September 2024 keine Zigarette mehr angerührt.“
Wenn das keine frohe Botschaft ist, dann weiß ich auch nicht mehr weiter!
Quelle: WAZ, Lokalteil GE, 31.10.25, S. WGE 4



Politiker mit Tränen und Kindern auf dem Arm, ein schwieriges Thema.
Frau Welges Abschiedsvideo:
https://www.facebook.com/share/v/19AYexpbop/
Sag zum Abschied leise Servus….
auf Facebook winken die meisten Kommentatoren höhnisch Bye Bye…
https://archive.ph/wBi4m
Was bleibt? Der Blick in die geheimen Tagebücher:
https://herrkules.de/thema/c93-stadt-1/geheime-tagebuecher/
Wie leicht hätte sie die Herzen der Bürger im Sturm erobert, wenn sie mit klaren Aussagen und nicht mit komplizierten Schachtelsätzen unterwegs gewesen wäre.
Wie gerne hätten die Bürger einen Hauch von frecher Göre als Oberbürgermeisterin gehabt, die den terminverhindernden Sekretariaten und den dahinter verschanzten Beamten in Berlin lautstark, täglich und bundesweit wahrnehmbar über sämtliche Social-Media-Kanäle den Arsch versohlt hätte, als sie keinen Termin bekommen hatte zur Rückadressierung der in Berlin beschlossenen und kommunal nicht lösbaren Probleme.
Es hätte enorme Auswirkungen in Gelsenkirchen gehabt, wenn die oberste Bürgerin der Stadt sich auf ihre Bürger und ihre Anliegen fokussiert hätte, und weniger auf verwaltungstechnisch herausragende Konzeptionen, die keiner mitbekommen hat. Ja, wenn sie nicht versucht hätte als Verhandlungsführerin (Präsidentin der Kommunalen Arbeitgeberverbände) sich eine Audienz bei den Berliner Exzellenzen zu erarbeiten (Wahrnehmungsschwelle auf der übergeordneten Ebene erhöhen), wären vielleicht Termine mit ihr möglich geworden für die Bürger und sogar die Dienstellenleiter in der Stadtverwaltung.
Unsere Karin hätte allen Kommunen eine geile Stimme gegeben und wahrscheinlich die ganze Republik verändert als fachlich fitte und parteilich weitgehend unabhängige Frau. Sie hat es nicht gewollt. „Meine Intention ist es nie gewesen, geil rüberzukommen. Mein Anspruch war es, geile Arbeit zu machen.“ Warum nicht beides? Warum einen Widerspruch konstruieren, wo keiner ist?
So lautet ihr Vermächtnis: „Aber wenn die Politik nicht allmählich kapiert, wo die Probleme liegen, wenn sie nicht versteht, dass wir in Gelsenkirchen das Brennglas für viele Entwicklungen sind, dann tut sie sich und der Demokratie in Deutschland keinen Gefallen.“ – Die Politik tut sich und der Demokratie also keinen Gefallen. Das saß! Ja, so formulierte unsere Karin die ganze Zeit. Aber niemand fühlt sich angesprochen, solange das Mandat erhalten bleibt, während Gesellschafts-, Wirtschafts- und Infrastrukturen unter den Lasten zusammenbrechen.
Der Abschied vom stressigsten Job Gelsenkirchens sei ihr übrigens von ganzem Herzen gegönnt. Vielleicht findet sie nun auch die Zeit, nach ihren Twitter-Zugangsdaten zu suchen.
https://x.com/karinwelge