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Zurück zum zweiten Teil

7.

Da passen wir wohl nicht hinein, in so ein kleines Bild. Ihr Gemälde ´Das Urteil des Paris´, das ist im Original über 8 Quadratmeter groß, aber das hier, das ist ja höchstens…“

Exakt 90,5 mal 71 cm“, vervollständigte Feuerbach Anselms Überlegungen.

Aber es spielt keine Rolle, wie groß das Bild im Original ist“, fuhr Feuerbach fort. „Ob 10 Quadratmeter oder 10 Quadratzentimeter. Es ist egal, ob darauf Ausschnitte aus der Gegenwart, der Vergangenheit, der Realgeschichte oder der Mythologie abgebildet sind. Du bist doch entscheidend! Du betrachtest das Bild – und es entsteht in deinem Kopf und durch deine Gefühle, Empfindungen und deine Fantasie jedes Mal aufs Neue. Durch dich wird das Bild lebendig, ohne dich ist es tote Materie auf einer Leinwand – Farbpigmente, Öl, Leim. Denke an den Mond: Ohne dich ist er ein Himmelskörper – aber erst durch dich wird er für dich zum Mond. Schau also einmal genau hin. Was siehst du?“

Anselm fuhr mit der rechten Hand durch seinen Haarschopf und dachte: „Jetzt nimmt er mich aber richtig in die Zange!“

Nach einer Weile, in der er das Bild still betrachtete, sagte er: „Ich sehe eine steil abfallende Küste mit seltsam geformten weißen Felsen links und rechts. Auf der rechten Seite steht ein großer Baum, auf der linken Seite ein kleinerer. Beide Bäume berühren sich mit ihren Ästen und Zweigen am oberen Bildrand, mehr so in der linken Bildhälfte. Man sieht das Meer mit zwei Segelbooten. Und natürlich die drei Menschen. Ein Mann steht mit verschränkten Armen am Stamm des rechten Baumes, ganz am Rand des Abhangs, auf der linken Seite hält sich eine Frau in einem roten Kleid an dem Gezweig des kleineren der beiden Bäume fest – mit der linken Hand – und mit der rechten Hand zeigt sie nach unten. Und was ich ganz komisch finde: in der Mitte zwischen den beiden Personen – nein, etwas mehr zum Mann hin, kriecht ein zweiter Mann im Gras herum, so als suche er etwas. Und er scheint den Abhang hinab zu schauen.“

Gut, gut. Viele richtige Details. Aber du verlierst dich im Moment noch in diesen Details. Nimm das Ganze in den Blick! Betrachte die weißen Felsen und die beiden Bäume und ihre Anordnung. Woran erinnert dich die Form, die sie bilden?“

Anselm zog zischend Luft durch die Zähne und grummelte ein lang gezogenes „Hmmmmmmh!“ Was sah er nur? Woran erinnerte ihn die Bildgestaltung? Er wusste, dass es eigentlich ganz einfach war, das zu erkennen. Er musste sich nur von den kleinen Einzelheiten lösen, die ständig vor seinen Augen hin – und her flimmerten. Der Mann, die Frau, der zweite Mann, die gezackten Felsen, die Bäume, die sich berührten, die Segelboote in der Ferne, das Meer… es war…es erinnerte an…

Ein Herz, es sieht aus wie ein Herz, die Felsen und die Bäume formen ein Herz!“ rief er aus.

Bravo, richtig, mein Junge. Ein Herz. Diese Felsformation, die du auf dem Bild siehst, die gibt es so auf Rügen nicht – und sie gab es auch nicht zur Zeit der Entstehung des Bildes im Jahre 1818. Sie ist zusammengesetzt aus zwei Felsformationen, nämlich der Kleinen und der Großen Stubbenkammer. Diese beiden Felsformationen und die Bäume erscheinen so wie ein Fenster, durch das wir auf das Meer blicken – und dieses Fenster hat die Form eines Herzens. Anders gesagt: Der Maler Caspar David Friedrich hat kein Körperorgan abgebildet, aber du siehst ein Herz. Du siehst also etwas, was im engeren Sinne nicht vorhanden ist. So wie du im Mond etwas siehst, was – rein naturwissenschaftlich betrachtet – nicht da ist.“

Und wie ich wohl nicht wirklich in diesem Bild verschwinden könnte, oder?“ fragte Anselm.

Natürlich nicht, natürlich nicht“, antwortete Feuerbach, ergriff dieses Mal Anselms Linke und begann damit, die schon beim Eintauchen in „Das Urteil des Paris“ verwendeten Sätze und Wörter zu murmeln.

8.

Da unten, da muss sie doch irgendwo liegen“, sagte die Frau im roten Kleid. Und ihr rechter Zeigefinger deutete den Abhang hinunter.

Ja, ja. Ich sehe sie, ich sehe sie“, antwortete der Mann, der in gefährlicher Haltung am Rand des Felsens lag und sich mit einer Hand am Wurzelwerk des Grases festhielt.

Kann ich Ihnen helfen?“

Der Mann in den hellen Hosen und der blauen, langen Jacke wandte seinen Kopf Anselm zu.

Ach, Junge! Meine Frau Caroline ist ins Stolpern geraten und hat dabei ihre Handtasche verloren, so ein Pech aber auch. Und das gute Stück hängt jetzt an einem Felsvorsprung fest.“ Dabei blickte er wieder über den Abgrund des Felsens hinab. Dann stand er auf, klopfte etwas Staub von seinen Hosen und ging auf Anselm zu.

Guten Tag, Junge!“

Guten Tag, Herr Friedrich. Und guten Tag Frau Friedrich!“

Du kennst uns?“ fragte der Mann.

Ich kenne einige ihrer Bilder und weiß, wer Sie sind. Mein Name ist Anselm!“

Ein schöner Name, mein Junge, ein guter Name“, meinte Friedrich.

Dass du Bilder meines Mannes kennst. Ungewöhnlich, ganz ungewöhnlich für einen Jungen deines Alters“, meinte Caroline Friedrich feststellen zu müssen.

Christian, so komm doch ´mal her und sei nicht länger so mürrisch. Schau ´mal, wir haben Besuch“, rief Friedrich in Richtung des zweiten Mannes, der immer noch wie unbeteiligt auf das Meer blickte.

Caroline Friedrich flüsterte Anselm zu:„Weißt du, er hatte überhaupt keine Lust, mit uns diese Wanderung zu machen. Caspars Bruder kann aber auch störrisch sein.“

Christian Friedrich machte keine Anstalten, seine Position zu verlassen. Noch nicht einmal die vor der Brust verschränkten Arme löste er.

Also gut, dann nicht! Was machen wir also?“ fragte der Maler in einer Mischung aus Ratlosigkeit und Verlegenheit wegen des Verhaltens seines Bruders.

Anselm riskierte einen Blick über den Rand des Felsens und erblickte die Brokattasche.

Er hörte sich plötzlich wie von ferne sagen: „Also! Ich könnte doch versuchen, die Tasche mit Ihrem Spazierstock zu angeln. Ich lasse mich über den Rand des Felsens hinab und Sie halten mich an den Fersen fest. Wenn Sie sich das zutrauen, dann würde ich den Versuch wagen.“

Kaum hatte er den letzten Satz ausgesprochen, machten sich Zweifel und ein leichtes Unwohlsein in ihm breit. Ob er sich da nicht etwas zu weit vorgewagt hatte? Beim Geräteturnen in der Schule hatte er sich immer so gerade noch durchwurschteln können. Aber bei der Kletterei an diesen von der Decke der Turnhalle herab baumelnden Seilen und den glatten Metallstangen, an denen andere in Windeseile hochgleiten konnten, hatte er stets versagt und war von den anderen Jungen aus der Klasse verlacht worden, wenn er nach zwei oder drei Zügen von diesen Geräten auf die auf dem Boden liegenden Turnmatte plumpste. Nein, sportlich war er nie gewesen! Und der bisherige Tiefpunkt war dieses Fußballspiel gegen die Mannschaft der 7 b beim Sportfest am Ende des letzten Schuljahres gewesen. Eigentlich sollte er überhaupt nicht mitspielen. „Noch nicht einmal zur Eckfahne taugt der doch“, hatte Kevin, der Kapitän der Klassenmannschaft einmal gesagt. Doch ausgerechnet vor dem Spiel gegen die Parallelklasse waren drei andere Jungs krank geworden. Anselm musste einspringen, und Herr Kofler, der Sportlehrer der Klasse, stellte ihn als Verteidiger auf – als Ersatzmann für Björn, den größten Jungen der Klasse, der jedes Kopfballduell sicher für sich entschied. Und es war gekommen, wie es kommen musste. Die Mannschaft hielt bis zur letzten Minute ganz unerwartet ein Null zu Null gegen die viel bessere Mannschaft der 7b, in der fünf Vereinsfußballer spielten. Es kam diese Flanke von rechts – Anselm sprang hoch – und von seinem Hinterkopf trudelte der Ball ins eigene Tor, unhaltbar für ihren Torwart. Seitdem war er unten durch und die Zielscheibe des ständigen Spotts der Klasse. Hatte er wegen seiner guten Leistungen in allen Fächern außer Sport bis dahin wenigstens noch den Respekt eines großen Teils seiner Mitschüler gehabt, so war er jetzt nur noch der Loser mit dem blöden Namen, dem Angebernamen, dem Strebernamen, dem Klugscheißer-Namen.

Junge, das können wir doch nicht von dir erwarten, das ist doch gefährlich!“ sagte Caroline Friedrich. Und Friedrich selbst nickte stumm, meinte jedoch schließlich: „Eine bessere Idee habe ich auch nicht.“

Anselm sah Caspar David Friedrich für einen kurzen Moment schweigend an, dann ging er zum Rand des Abhangs und legte sich flach auf den Bauch. Er spähte nach unten. Da war die Tasche – und darunter in einer bodenlose Tiefe das Meer, schön und schauerlich zugleich, und es schien so, als wolle es Anselm in den Abgrund ziehen.

9.

Noch ein Stück, ein kleines Stück tiefer“, keuchte Anselm. Sein Herz hämmerte, das Blut presste sich in seinen Kopf, der sich anfühlte, als sei er auf die doppelte Größe angewachsen und müsse gleich zerplatzen. Sein rechtes Knie schmerzte, weil ein spitzer Felsvorsprung sich beim Herablassen durch sein Hosenbein gebohrt und seine Haut eingeritzt hatte. Der Druck von Friedrichs Händen an seinen Fersen führte dazu, dass seine Knöchel brannten wie Feuer. Und das Meer unter ihm schien nur darauf zu warten, dass den Maler die Kraft verließ, so dass er Anselm nicht mehr halten konnte und Anselm unweigerlich in die Tiefe stürzte.

Nicht hinabsehen, nur nicht hinabsehen“, sagte Anselm immer wieder zu sich selbst.

Schon mehrfach hatte er versucht, mit dem Spazierstock Friedrichs einen Bügel der Handtasche zu erwischen, um sie soweit an die Felswand heranziehen zu können, dass er sie mit einer Hand ergreifen konnte.

Junge, ich kann nicht weiter vor, dann rutsche ich ab, und wir beide stürzen in die Tiefe. Ich ziehe dich lieber wieder hoch, bevor noch ein Unglück passiert!“ rief Friedrich ihm zu.

Ja, Junge, komm wieder hoch“, forderte ihn Friedrichs Frau jetzt auf, „das ist die Tasche nicht wert, dass du dein Leben riskierst!“

Nur ein kleines Stück noch“, schrie Anselm den beiden zu und drückte sich mit der linken Hand von der Felswand ab, während er mit seiner Rechten einen weiteren Versuch unternahm, mit dem Stock die Tasche in seine Reichweite zu bewegen.

JA! Endlich! Es klappte! Er konnte den Stock unter einem Bügel durchschieben und begann nun ganz vorsichtig damit, die Tasche in Richtung auf die Felswand zuzuziehen.

Ich habe sie gleich“, meldete er nach oben, „ein paar Zentimeter noch.“

Anselm kam sich vor wie ein Zirkusartist, der eine waghalsige Nummer zum ersten Mal einem ausgewählten Publikum präsentierte und kurz davor war zu scheitern.

Doch nun hatte er die Tasche soweit zu sich heran bugsiert, dass er sie ergreifen konnte. In der rechten Hand den Stock haltend, griff er mit seiner Linken nach der Tasche. Genau in diesem Moment legte sich Friedrichs Frau neben ihren Mann an den Rand, um besser hinabsehen zu können, was dazu führte, dass sich einige kleine Brocken von der Felsformation lösten und Anselm in den Nacken und auf den Kopf fielen. Das tat zwar nicht besonders weh, versetzte Anselm aber einen solchen Schrecken, dass er die Tasche und Friedrichs Spazierstock los lies und unwillkürlich begann, mit den Beinen zu zappeln. Anselms linker Fuß löste sich aus Friedrichs Umklammerung, und nun pendelte Anselm, nur noch von einer Hand des Malers gehalten, an der Felswand hin und her.

Friedrichs Frau schrie auf, und ihr Ehemann rief zu Anselm hinunter: „Anselm, versuche ruhig zu bleiben, damit ich deinen Fuß wieder erfassen kann, hörst du!“

Anselm aber schaute nach unten und es war ihm, als öffnete das Meer seinen großen Schlund, bereit und gierig, ihn zu verschlingen. Eine fürchterliche Angst ergriff ihn und ließ ihn in immer hektischere Bewegungen verfallen. Friedrich hatte mittlerweile mit beiden Händen Anselms rechten Fuß umfasst, und Anselm hatte das Gefühl, ihm würde das rechte Bein ausgerissen.

Anselms Atmung wurde hektischer, Schweißperlen tropften von seiner Stirn hinab auf den Felsvorsprung, wo die Tasche lag. Der Stock Friedrichs war auf dem Vorsprung aufgeschlagen und von dort ins Wasser gefallen. Anselm glaubte, in seinem Mundraum breitete sich die Wüste Gobi aus, denn bis tief in den Rachen hinein spürte er eine anwachsende Trockenheit. Und es war ihm, als drücke eine steinerne Faust seinen Hals zu. Von oben hörte er die aufgeregte Stimme von Caroline Friedrich, die ihren Schwager anflehte, ihrem Mann zu Hilfe zu eilen. Und nur wenige Sekunden später erfasste eine dritte Hand Anselms rechtes Bein.

Wir versuchen jetzt, dich hochzuziehen, keine Angst, Anselm“, ertönte laut eine bisher nicht gehörte Stimme. Das musste Christian Friedrich sein, dachte Anselm. Aber zu antworten war er nicht in der Lage. Vielmehr schien es ihm, als sauge eine unbekannte Macht jegliche Kraft aus ihm heraus. Er gab die Hoffnung auf Rettung auf und glaubte, sein Herz höre zu schlagen auf.

In diesem Moment nahm Anselm wahr, dass sich eines der beiden Segelboote in ruhiger Fahrt der Felsformation genähert hatte, als wolle es dort vor Anker gehen. Das gab es doch nicht! Am Bug, stand, lässig eine Zigarette rauchend, Feuerbach und rief ihm zu:

Hallo, Anselm! Alles wird gut, aber höre mit dem Gezappel auf. Der gute Friedrich und sein Bruder werden dich sonst kaum lange halten können. Stütze dich an der Wand ab und strecke einfach dein linkes Bein wieder nach oben, so dass jeder der beiden Männer ein Bein fassen kann, um dich hoch zu ziehen. Anselm, du schaffst das! Los, Junge, mach schon! Wir haben doch noch was vor, und ich will nicht ewig auf dich warten.“

Anselm griff nach einer scharfkantigen Vorwölbung in der Felswand und schrie auf, als er sich dabei die Innenfläche seiner rechten Hand aufriss. Ihm wurde schwarz vor Augen – aber er merkte noch, wie er sein linkes Bein ausstreckte und wie zwei Hände seinen Fuß erfassten. Als Caspar David und Christian Friedrich damit begannen, ihn hoch zu ziehen, war er schon ohnmächtig.

10.

Oh, Mann, das war knapp. Ich dachte schon: jetzt ist es vorbei mit mir. Und die Hand tut weh, aah, wie das brennt!“

Anselm und Feuerbach saßen in dem Strandkorb im Garten, nachdem Feuerbach den Riss in Anselms Hand mit Mitteln aus der Hausapotheke gesäubert, desinfiziert und mit einem großen Pflaster versorgt hatte.

Bis du heiratest, ist die Wunde abgeheilt“, versicherte Feuerbach. Einer seiner Tabakrauchringe formte eine Hand, ein zweiter ein Herz.

Er drückte die Zigarette im Aschenbecher von Opa Franz aus und fragte dann:

Und – hast du etwas gesehen?“

Was gesehen?“

Als du ohnmächtig wurdest und dachtest, es geht mit dir zu Ende.“

Was soll ich denn gesehen haben?“ wiederholte Anselm seine Frage.

Ein Licht, oder dich selbst von oben, oder einen schwarzen Tunnel, oder eine Gestalt, die eine Hand nach dir ausstreckt – irgend so etwas.“

Nichts habe ich gesehen, nur schwarz vor Augen ist mir geworden. Und da war keine Hand, die nach mir ausgestreckt wurde, aber zwei Hände, die mein ausgestrecktes Bein erfasst haben, die habe ich gespürt, aber nicht gesehen.“

Dieser Christian – steht da und schaut aufs Meer, während du über dem Abgrund zappelst. Caspar David und seine Frau haben ihm ordentlich eingeheizt, nachdem sie dich erst mal wieder herauf gezogen hatten. Wahrscheinlich hat der Vorfall mit dir Caspar David Friedrich an ein Ereignis aus seiner Kindheit erinnert, und wenn dir etwas passiert wäre, dann…“

Welches Ereignis?“ fragte Anselm dazwischen.

Feuerbach zögerte einen Moment mit der Antwort, so als überlege er, ob er der Frage ausweichen solle.

Caspar David Friedrichs ein Jahr jüngerer Bruder Christoffer ist bei dem Versuch ums Leben gekommen, Caspar David aus dem Wasser zu ziehen. Ein sehr, sehr schmerzlicher Verlust für den jungen Caspar David, der damals übrigens 13 Jahre alt war – so alt wie du jetzt.“

Ich kann Friedrich gut verstehen, ich kann mir vorstellen, was er empfunden haben muss, als er diesen Verlust erlitt. Vor zwei Jahren nämlich, ich ….“

Anselm brach den Satz, kaum dass er ihn begonnen hatte, ab und schwieg – und Feuerbach schwieg mit ihm. Und sah, dass Anselms Augen feucht wurden, sagte aber nichts, schwieg vielmehr weiter. So saßen sie also wortlos und jeder seinen Gedanken nachhängend nebeneinander, und nichts war zu hören außer dem Rauschen der Fahrzeuge auf der nicht allzu fernen Autobahn und dem gelegentlichen Flügelschlag von Spatzen, die durch den Garten flogen. Selbst die Tiere schienen zu schweigen, jedenfalls durchbrach kein Tschilpen der Sperlinge die Stille des späten Nachmittags, den die Sonne noch in eine angenehme Wärme tauchte.

Nach einer Weile entnahm Feuerbach dem silbernen Döschen, das stets in seiner rechten Jackentasche verstaut war, eine Zigarette, zündete sie an und sagte:

Schön habt ihr es hier. Und dieser Strandkorb – originell. Auch original?“

Anselm lächelte. „Ach was! Das ist das Modell Nordsee Blue Royal! Hat aber die Nordsee noch nie in seinem Leben gesehen, ist nämlich in China produziert worden. Hat mein Vater vor drei Jahren meiner Mutter zum Geburtstag geschenkt, weil sie so gerne am Meer war…am Meer ist und hinaus blickt, in die Ferne. Mein Vater hat sie einmal gefragt, wonach sie denn Ausschau halte. Und meine Mutter hat geantwortet, sie wisse es nicht. Sie schaue nur.“

So wie Friedrichs Bruder in dem Rügen-Bild?“ fragte Feuerbach und ergänzte: „Man weiß ja bei ihm auch nicht so genau, was er sieht oder was er zu sehen hofft. Er schaut einfach bis zum Horizont oder darüber hinaus.“

Geht das denn, über den Horizont hinaus schauen?“ wollte Anselm wissen.

Mit den Augen wohl nicht – vielleicht mit dem Herzen oder mit den Gefühlen oder der Seele, wenn du es so nennen willst.“

Feuerbach griff zu dem Bildband, den er neben dem Korb auf den Rasen gelegt hatte, und blätterte darin. Dann hielt er kurz inne und sagte zu Anselm:

Ich vermute, dass du die Geschichte von Iphigenie kennst? Wer weiß, wie sich Paris entschieden hat, der kennt bestimmt noch mehr Geschichten aus dem Sagenkreis um Troja.“

Wir sollten im Deutschunterricht alle eine Lektüre unserer Wahl, sozusagen unser Lieblingsbuch, vorstellen. Und als ich nach den vielen Beiträgen zu Greg´s Tagebuch, Harry Potter, den 3 Fragezeichen??? und irgendwelchen Pferdeabenteuern und Elfengeschichten Gustav Schwabs Die schönsten Sagen des klassischen Altertums vorstellte, da hatte ich natürlich mein Fett weg bei meinen Mitschülern: Streberleiche, Professor Troja, Onkel Tsatsiki und Anselm Gyros waren noch die harmlosesten Bezeichnungen, die ich mir einfing. Und als ich dann auch noch die beste Note bekam, da war ich ganz unten durch. Ich verstehe das manchmal nicht: Ich zerre doch auch nicht an den anderen herum. Ich habe kein Problem damit, dass sie besser Fußball spielen können, dass sie andere Bücher lesen, dass sie an ihren Smartphones rumfummeln, dass der eine besser in Mathematik und eine andere besser in Chemie ist als ich. Muss ich mich dafür schämen, dass ich Zeitungen oder Bücher lese, während sie ´world of warcraft´ spielen? Ich mache mich doch auch nicht über ihre Namen lustig, so wie sie sich über meinen lustig machen. Doch: bitte nicht böse sein, ´mal ganz, ganz ehrlich, ich bitte um Entschuldigung – aber: Anselm ist ein Scheiß-Name.“

Mit überdeutlich gespieltem Ärger rief Feuerbach aus: „Junge! Wie kannst du so etwas sagen! Anselm ist doch ein wunderbarer Name, der in etwa unter dem Schutz der Götter stehend bedeutet.“

Dafür kann ich mir nichts kaufen! Oder soll ich mir ein Schild umhängen, auf dem die Bedeutung des Namens erklärt wird?“ antwortete Anselm voller Verbitterung.

Du wärst also lieber ein Elias, Fynn, Jonas, Leon, Louis, Luca, Lukas, Noah oder Paul?“ fragte Feuerbach jetzt wieder in seinem üblichen gelassenen Tonfall.

Wieso? Wie kommen Sie auf diese Namen?“

Das waren die beliebtesten Jungennamen 2015“, antwortete Feuerbach und ergänzte: „Modenamen im Wechsel der Zeiten. Aber sie können ihren Träger adeln, wenn er den Namen mit Stolz trägt und seiner würdig ist, wenn Name und Mensch miteinander verschmelzen.“

Das klingt jetzt aber ziemlich gedrechselt“, wandte Anselm mürrisch ein.

So? Wenn du meinst! Na ja, bin halt manchmal etwas pathetisch – wie meine Bilder. Dann versuche ich es mal anders: Paris fand deinen Namen seltsam, weil er ihm unbekannt war, aber lustig gemacht hat er sich nicht darüber, oder?“

Stimmt!“ meinte Anselm.

Und die Friedrichs haben sogar gesagt, dein Name sei schön, nicht wahr?“

Stimmt auch!“

Und: welcher Fynn oder Leon oder Luca oder Elias kann schon in Bildern verschwinden und wieder daraus auftauchen? Wohl keiner!

Du aber kannst es! Du bist dir selbst aber trotzdem nicht genug, du findest dich und deinen Namen blöd. Du magst dich und deinen Namen nicht. Aber wie sollen die anderen dich mögen können, wenn du dich selbst nicht magst, wenn du nicht auf das stolz bist, was du bist, kannst und tust, egal, was die anderen sagen und denken. Schaue also auf dich, auf das, was dich ausmacht, und nicht auf die anderen und ihre Meinung über dich. Es könnte nämlich sein, dass du dann in Zerrspiegel schaust!“

Ganz schön lange Rede“, meinte Anselm, aber sein Tonfall hatte sich verändert. Die Verbitterung in seiner Stimme hatte einem in einer ganz entlegenen Zone seines Herzens schwach aufglimmenden Funken Frohsinn Platz gemacht.

Die Welt ist kompliziert, gelegentlich undurchdringlich, häufig ungerecht, meistens aber einfach nur trivial“, fuhr Feuerbach fort, „aber sie hält von Zeit zu Zeit auch Überraschungen bereit, Freude und Wunder – und manchmal sogar Momente der Unsterblichkeit, so etwa wenn wir lieben, wenn wir bedingungslos lieben.“

Und als habe die Natur diesen Stimmungsumschwung des Jungen gespürt, kam ein sanfter Wind auf und einige Spatzen ließen sich auf der Gartenmauer nieder und begannen mit ihrer Nachmittagsplauderei.

Aber eigentlich waren wir bei Iphigenie“, sagte Feuerbach und schlug im Bildband eine Seite auf, die sein Gemälde „Iphigenie“ aus dem Jahre 1871 zeigte.

Es gibt drei Fassungen, aber diese ist mir selbst die liebste. Autsch!“

Feuerbach schüttelte seine rechte Hand. Beim Ausdrücken der Zigarette hatte er nicht aufgepasst und mit seinem Mittelfinger in die heiße Glut des Zigarettenstummels gefasst. Er pustete gegen seine Finger.

Anselm musste lachen: „Das Bild bzw. eine Abbildung davon habe ich schon mal gesehen, auf dem Umschlag einer Schullektürenausgabe des Iphigenie-Dramas von Goethe.“

Da bin ich aber stolz“, sagte Feuerbach, „stolz, weil ein Bild von mir Schulbuchumschläge einer Goethe-Ausgabe ziert. Stolz, aber ungeschickt! So alt und noch nicht einmal richtig rauchen können.“ Anselm fixierte das Bild, das die Tochter des Griechenkönigs Agamemnon auf einer Art steinernen Stufe an einer Brüstung sitzend zeigte. Sie war in ein Gewand gehüllt, das bis zum Boden reichte und dessen heller Farbton zu ihren dunklen Haaren im Kontrast stand. Iphigenies Gesicht, das nur teilweise im Profil zu sehen war, lag in ihrer linken Hand, der Arm war auf die Brüstung gestützt. Iphigenie, der Göttin Artemis, auch Diana genannt, als Priesterin dienend, blickte aufs Meer hinaus zum entfernten Horizont , hinter dem ihre Heimat Griechenland lag, nach der sie sich sehnte.

Wissen Sie, was mir jetzt auffällt?“

Anselm merkte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte.

Feuerbach schien immer noch mit seinem schmerzenden Finger beschäftigt zu sein und antwortete wie nebenbei: „Nein, was denn?“

Iphigenie blickt aufs Meer wie…“.

Anselm stockte.

Na, nun sag´ schon, Junge!“

Wie…wie meine Mutter!“

So ein Zufall aber auch“, kommentierte Feuerbach.

11.

Das Meer war fast bewegungslos. Nur wenige grau-blaue kleine Wellen rollten unter dem von Wolken durchzogenen Himmel sanft gegen das Ufer an.

Iphigenie blickte in die Ferne, so als erwarte sie etwas, was am Horizont auftauchen musste. Ihre gesamte Haltung drückte Nachdenklichkeit und eine gewisse innere Anspannung aus. In ihrer Bewegungslosigkeit mutete sie fast an wie eine Skulptur.

Anselm zögerte. Einerseits wurde er von der eindrucksvollen Gestalt mit dem schwarz glänzenden Haar und in dem schweren weiß-grauen Gewand, unter dem am rechten Handgelenk und dem linken Unterarm ein dunkel-rotes Unterkleid sichtbar war, wie von einer geheimnisvollen Kraft angezogen. Andererseits wollte er die Stille des Augenblicks nicht stören.

In diesem Moment veränderte Iphigenie ihre Haltung und wandte sich Anselm zu.

Anselm, du musst nicht dort stehen bleiben!“

Der Klang von Iphigenies Stimme war warm und sanftmütig, sie sah Anselm mit einem interessierten und offenen Blick aus wachen Augen an und winkte ihn mit ihrer rechten Hand zu sich, an der sie einen unscheinbaren Ring mit einem blauen Stein trug.

Anselm machte ein paar Schritt und setze sich auf die verwitterte Brüstung, die wie eine Grenze zwischen Strand und Meer und dem hier und jetzt und der weiten Ferne wirkte.

Erst aus der Nähe sah Anselm, dass Iphigenies Gesichtszüge denen der drei Frauen bei der Wahl des Paris stark ähnelten. Ob Feuerbach wohl wieder diese Lucia Brunacci Modell gestanden hatte, ging es Anselm durch den Kopf!

Sie kennen meinen Namen?“ fragte er verwundert.

Wenn du schon denselben Vornamen trägst wie mein Feuerbach! Ein schöner Name, ein Name mit gutem Klang und der Verheißung, unter dem Schutz der Götter zu stehen.“

Aber auf die Götter ist nicht immer Verlass, oder?“

Nein, verlassen können wir uns nicht auf sie. Ihre Entscheidungen sind manchmal grausam, ihre Wege sind für uns nur selten verständlich und die Gründe für ihr Handeln bleiben uns fast immer ein Rätsel. Deshalb: Verlassen können wir uns nur auf uns selber. Und auf Menschen, die uns lieben und die wir lieben. Wenn sich die Götter zeigen, dann in dieser Liebe. Glaube mir, ich weiß, wovon ich rede. Mein eigener Weg ist voller wunderbarer und wunderlicher Wendungen – und er ist noch nicht zu Ende.“

Iphigenie richtete ihren Blick nun wieder aufs Meer hinaus und sagte dann: „Zehn Jahre bin ich schon hier, zehn Jahre der Freiheit und der Gefangenschaft zugleich. Zehn Jahre der Sehnsucht nach den Menschen, die mich lieben und die ich vermisse. Zehn Jahre des Wartens und Erwartens. Aber ein kluger Mann, der nach meiner Zeit und vor deiner Zeit gelebt hat, hat einmal gesagt: ´Erwarte nichts und lebe, wie es sich gehört´. Die Erwartung gebe ich nicht auf, aber ich lebe, wie es sich gehört. Zumindest versuche ich es.“

Anselm wandte sich ebenfalls dem Meer zu und blickte zum Horizont. Wie selbstverständlich legte er seine linke Hand auf die rechte Iphigenies, über deren Gesicht ein Lächeln huschte.

Aber Sie können noch Hoffnung haben, dass es ein Wiedersehen gibt und dass Sie heimkehren können“, sagte Anselm leise und merkte, wie ihn eine schwermütige Stimmung erfasste. Dabei war er über sich selbst verwundert. Woher kam der Drang, dieser fremden Frau sein Herz zu öffnen, ihr von seinem innersten Schmerz zu erzählen?

Ich dagegen, ich…werde meine Mutter nicht mehr sehen, weil sie nicht mehr zurückkehren wird.“

Iphigenie löste Anselms Hand von der ihren, rückte näher an ihn heran und nahm ihn in den Arm. Anselm legte seinen Kopf in ihre rechte Armbeuge und begann zu weinen. Erst nur schwach, dann immer heftiger.

Iphigenie strich über sein Haar und hielt den nun hemmungslos schluchzenden Jungen fest, dessen Körper von Wellen der Traurigkeit und Verzweiflung erschüttert wurde.

Als Anselms Atmung nach einiger Zeit wieder gleichmäßiger und ruhiger wurde und seine Tränen allmählich nachließen, löste Iphigenie die Umarmung und erfasste Anselms Hände.

Niemand stirbt wirklich, solange er in unserer Erinnerung lebt. Aber erst, wenn du akzeptierst, dass deine Mutter gestorben ist, kannst du dich an sie erinnern, kann sie in deinem Herzen weiter leben, kannst du vor dem Einschlafen mit ihr sprechen. Du wirst sie nicht umarmen können – aber sie wird bei dir sein. Du wirst ihr keinen Begrüßungs- oder Abschiedskuss geben können – aber sie wird bei dir sein. Sie wird dir nicht mit Worten antworten – aber sie wird bei dir sein und ohne Worte zu dir sprechen. Du wirst sie in den Bäumen und Blumen erkennen, du wirst sie in den Pflanzen und Kräutern sehen, im Gesang der Vögel wirst du sie hören, im Licht der Sonne und der Sterne und im Wehen des Windes wird sie bei dir sein. Und immer wieder im Kommen und Gehen, im Gleiten und Ziehen der Wellen des Meeres, an dem sie so gerne war, um in die Ferne zu schauen.“

Ein Seufzer rüttelte Anselm durch, danach erfasste eine wohl tuende Ruhe seinen Körper. Der Kloß, der in seinem Hals gesessen hatte, zerbröselte und gab seine Stimmbänder frei. Zwei- oder dreimal musste er schlucken. Er atmete tief durch und sagte: „Ja, sie hat immer gerne aufs Meer geschaut – gerade so wie Sie es vorhin auch getan haben. So als erwarte sie etwas, von dem sie selbst nicht wusste, was es wohl sein könnte.“

Anselm drehte seinen Kopf leicht zum Horizont hin, kniff die Augen etwas zusammen, öffnete sie wieder und sagte: „Schauen Sie einmal, dort, am Horizont, ein schwarzer Punkt, der sich bewegt.“

Iphigenie ließ Anselms Hände los, und beide blickten auf das Meer hinaus.

Ein Schiff, ein Schiff, das näher kommt“, sagte Iphigenie nach einiger Zeit, „ich erkenne ein Segel, ein schwarzes Segel.“

Und auf dem Schiff ist Orestes“, sagte Anselm, „Ihr Bruder Orestes, der aber nicht weiß, dass sie noch leben.

Junge, hör auf, deine Scherze mit mir zu treiben. Woher willst du das wissen?“

Komisch, diese Frage hat mir Paris auch gestellt“, antwortete Anselm. „Danke“, sagte er zu Iphigenie, „ich danke Ihnen!“ Dann erhob er sich und entfernte sich, ohne sich noch einmal nach Iphigenie umzudrehen.

Teil 1

Teil 2

Teil 4

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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